Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 540 |
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| 01 | die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären | ||||||
| 02 | und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und | ||||||
| 03 | oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich | ||||||
| 04 | selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigenthümlichen Inhalt, | ||||||
| 05 | die Articulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft nicht | ||||||
| 06 | bestimmen können. | ||||||
| 07 | Es ist schlimm, daß nur allererst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung | ||||||
| 08 | einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin | ||||||
| 09 | sich beziehende Erkenntnisse als Bauzeug gesammlet, ja gar lange Zeiten | ||||||
| 10 | hindurch sie technisch zusammengesetzt haben, es uns dann allererst möglich | ||||||
| 11 | ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein Ganzes nach den | ||||||
| 12 | Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen. Die Systeme scheinen | ||||||
| 13 | wie Gewürme durch eine generatio aequivoca aus dem bloßen Zusammenfluß | ||||||
| 14 | von aufgesammleten Begriffen anfangs verstümmelt, mit der Zeit | ||||||
| 15 | vollständig gebildet worden zu sein, ob sie gleich alle insgesammt ihr | ||||||
| 16 | Schema als den ursprünglichen Keim in der sich bloß auswickelnden Vernunft | ||||||
| 17 | hatten und darum nicht allein ein jedes für sich nach einer Idee gegliedert, | ||||||
| 18 | sondern noch dazu alle unter einander in einem System menschlicher | ||||||
| 19 | Erkenntniß wiederum als Glieder eines Ganzen zweckmäßig vereinigt | ||||||
| 20 | sind und eine Architektonik alles menschlichen Wissens erlauben, die | ||||||
| 21 | jetziger Zeit, da schon so viel Stoff gesammlet ist, oder aus Ruinen eingefallener | ||||||
| 22 | alter Gebäude genommen werden kann, nicht allein möglich, | ||||||
| 23 | sondern nicht einmal so gar schwer sein würde. Wir begnügen uns hier | ||||||
| 24 | mit der Vollendung unseres Geschäftes, nämlich lediglich die Architektonik | ||||||
| 25 | aller Erkenntniß aus reiner Vernunft zu entwerfen, und fangen | ||||||
| 26 | nur von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnißkraft | ||||||
| 27 | theilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Vernunft ist. Ich | ||||||
| 28 | verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnißvermögen | ||||||
| 29 | und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen. | ||||||
| 30 | Wenn ich von allem Inhalte der Erkenntniß, objectiv betrachtet abstrahire, | ||||||
| 31 | so ist alles Erkenntniß subjectiv entweder historisch oder rational. | ||||||
| 32 | Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis , die rationale aber cognitio | ||||||
| 33 | ex principiis . Eine Erkenntniß mag ursprünglich gegeben sein, woher sie | ||||||
| 34 | wolle, so ist sie doch bei dem, der sie besitzt, historisch, wenn er nur in dem | ||||||
| 35 | Grade und so viel erkennt, als ihm anderwärts gegeben worden; es mag | ||||||
| 36 | dieses ihm nur durch unmittelbare Erfahrung oder Erzählung, oder auch | ||||||
| 37 | Belehrung (allgemeiner Erkenntnisse) gegeben sein. Daher hat der, welcher | ||||||
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