Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 480 |
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| 01 | der Begriff durch die Definition zuerst gegeben wird, so enthält er gerade | ||||||
| 02 | nur das, was die Definition durch ihn gedacht haben will. Aber obgleich | ||||||
| 03 | dem Inhalte nach nichts Unrichtiges darin vorkommen kann, so kann doch | ||||||
| 04 | bisweilen, obzwar nur selten, in der Form (der Einkleidung) gefehlt werden, | ||||||
| 05 | nämlich in Ansehung der Präcision. So hat die gemeine Erklärung der | ||||||
| 06 | Kreislinie, daß sie eine krumme Linie sei, deren alle Punkte von einem | ||||||
| 07 | einigen (dem Mittelpunkte) gleich weit abstehen, den Fehler, daß die Bestimmung | ||||||
| 08 | krumm unnöthiger Weise eingeflossen ist. Denn es muß einen | ||||||
| 09 | besonderen Lehrsatz geben, der aus der Definition gefolgert wird und leicht | ||||||
| 10 | bewiesen werden kann: daß eine jede Linie, deren alle Punkte von einem | ||||||
| 11 | einigen gleich weit abstehen, krumm (kein Theil von ihr gerade) sei. Analytische | ||||||
| 12 | Definitionen können dagegen auf vielfältige Art irren, entweder | ||||||
| 13 | indem sie Merkmale hineinbringen, die wirklich nicht im Begriffe lagen, | ||||||
| 14 | oder an der Ausführlichkeit ermangeln, die das Wesentliche einer Definition | ||||||
| 15 | ausmacht, weil man der Vollständigkeit seiner Zergliederung nicht | ||||||
| 16 | so völlig gewiß sein kann. Um deswillen läßt sich die Methode der Mathematik | ||||||
| 17 | im Definiren in der Philosophie nicht nachahmen. | ||||||
| 18 | 2. von den Axiomen.Diese sind synthetische Grundsätze a priori, so | ||||||
| 19 | fern sie unmittelbar gewiß sind. Nun läßt sich nicht ein Begriff mit dem | ||||||
| 20 | anderen synthetisch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir über | ||||||
| 21 | einen Begriff hinausgehen können, ein drittes, vermittelndes Erkenntniß | ||||||
| 22 | nöthig ist. Da nun Philosophie bloß die Vernunfterkenntniß nach Begriffen | ||||||
| 23 | ist, so wird in ihr kein Grundsatz anzutreffen sein, der den Namen eines | ||||||
| 24 | Axioms verdiene. Die Mathematik dagegen ist der Axiomen fähig, weil | ||||||
| 25 | sie vermittelst der Construction der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes | ||||||
| 26 | die Prädicate desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kann, | ||||||
| 27 | z. B. daß drei Punkte jederzeit in einer Ebene liegen. Dagegen kann ein | ||||||
| 28 | synthetischer Grundsatz bloß aus Begriffen niemals unmittelbar gewiß | ||||||
| 29 | sein, z. B. der Satz: alles, was geschieht, hat seine Ursache; da ich mich | ||||||
| 30 | nach einem Dritten herumsehen muß, nämlich der Bedingung der Zeitbestimmung | ||||||
| 31 | in einer Erfahrung, und nicht direct, unmittelbar aus den Begriffen | ||||||
| 32 | allein, einen solchen Grundsatz erkennen konnte. Discursive Grundsätze | ||||||
| 33 | sind also ganz etwas anderes als intuitive, d. i. Axiomen. Jene erfordern | ||||||
| 34 | jederzeit noch eine Deduction, deren die letztern ganz und gar | ||||||
| 35 | entbehren können; und da diese eben um desselben Grundes willen evident | ||||||
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