Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 477

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Blößen ihrer selbst desto deutlicher aufzudecken: daß Meßkunst und Philosophie      
  02 zwei ganz verschiedene Dinge seien, ob sie sich zwar in der Naturwissenschaft      
  03 einander die Hand bieten, mithin das Verfahren des einen      
  04 niemals von dem andern nachgeahmt werden könne.      
           
  05 Die Gründlichkeit der Mathematik beruht auf Definitionen, Axiomen,      
  06 Demonstrationen. Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen: daß keines      
  07 dieser Stücke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der      
  08 Philosophie könne geleistet, noch nachgeahmt werden; daß der Meßkünstler      
  09 nach seiner Methode in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu      
  10 Stande bringe, der Philosoph nach der seinigen in dem Antheil der Mathematik      
  11 nur ein Geschwätz erregen könne, wiewohl eben darin Philosophie      
  12 besteht, seine Grenzen zu kennen, und selbst der Mathematiker, wenn      
  13 das Talent desselben nicht etwa schon von der Natur begrenzt und auf      
  14 sein Fach eingeschränkt ist, die Warnungen der Philosophie nicht ausschlagen,      
  15 noch sich über sie wegsetzen kann.      
           
  16 1. Von den Definitionen. Definiren soll, wie es der Ausdruck      
           
  17 selbst giebt, eigentlich nur so viel bedeuten, als den ausführlichen Begriff      
  18 eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen*).      
  19 Nach einer solchen Forderung kann ein empirischer Begriff gar nicht definirt,      
  20 sondern nur explicirt werden. Denn da wir an ihm nur einige      
  21 Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es      
  22 niemals sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegenstand bezeichnet,      
  23 nicht einmal mehr, das anderemal weniger Merkmale desselben      
  24 denke. So kann der eine im Begriffe vom Golde sich außer dem Gewichte,      
  25 der Farbe, der Zähigkeit noch die Eigenschaft, daß es nicht rostet,      
  26 denken, der andere davon vielleicht nichts wissen. Man bedient sich gewisser      
  27 Merkmale nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind;      
  28 neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und setzen einige hinzu,      
  29 der Begriff steht also niemals zwischen sicheren Grenzen. Und wozu sollte      
  30 es auch dienen, einen solchen Begriff zu definiren, da, wenn z. B. von dem      
  31 Wasser und dessen Eigenschaften die Rede ist, man sich bei dem nicht aufhalten      
           
    *) Ausführlichkeit bedeutet die Klarheit und Zulänglichkeit der Merkmale; Grenzen die Präcision, daß deren nicht mehr sind, als zum ausführlichen Begriffe gehören; ursprünglich aber, daß diese Grenzbestimmung nicht irgend woher abgeleitet sei und also noch eines Beweises bedürfe, welches die vermeintliche Erklärung unfähig machen würde, an der Spitze aller Urtheile über einen Gegenstand zu stehen.      
           
     

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