Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 476 |
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01 | wo nicht ihr selbst, doch ihrer Methode auch außer dem Felde der Größen | ||||||
02 | gelingen werde, indem sie alle ihre Begriffe auf Anschauungen bringt, die | ||||||
03 | sie a priori geben kann, und wodurch sie, so zu reden, Meister über die | ||||||
04 | Natur wird: da hingegen reine Philosophie mit discursiven Begriffen | ||||||
05 | a priori in der Natur herum pfuscht, ohne die Realität derselben a priori | ||||||
06 | anschauend und eben dadurch beglaubigt machen zu können. Auch scheint | ||||||
07 | es den Meistern in dieser Kunst an dieser Zuversicht zu sich selbst und dem | ||||||
08 | gemeinen Wesen an großen Erwartungen von ihrer Geschicklichkeit, wenn | ||||||
09 | sie sich einmal hiemit befassen sollten, gar nicht zu fehlen. Denn da sie | ||||||
10 | kaum jemals über ihre Mathematik philosophirt haben (ein schweres Geschäfte!), | ||||||
11 | so kommt ihnen der specifische Unterschied des einen Vernunftgebrauchs | ||||||
12 | von dem andern gar nicht in Sinn und Gedanken. Gangbare | ||||||
13 | und empirisch gebrauchte Regeln, die sie von der gemeinen Vernunft | ||||||
14 | borgen, gelten ihnen dann statt Axiomen. Wo ihnen die Begriffe von | ||||||
15 | Raum und Zeit, womit sie sich (als den einzigen ursprünglichen Quantis ) | ||||||
16 | beschäftigen, herkommen mögen, daran ist ihnen gar nichts gelegen; und | ||||||
17 | eben so scheint es ihnen unnütz zu sein, den Ursprung reiner Verstandesbegriffe | ||||||
18 | und hiemit auch den Umfang ihrer Gültigkeit zu erforschen, sondern | ||||||
19 | nur sich ihrer zu bedienen. In allem diesem thun sie ganz recht, | ||||||
20 | wenn sie nur ihre angewiesene Grenze, nämlich die der Natur, nicht überschreiten. | ||||||
21 | So aber geraten sie unvermerkt von dem Felde der Sinnlichkeit | ||||||
22 | auf den unsicheren Boden reiner und selbst transscendentaler Begriffe, | ||||||
23 | wo der Grund ( instabilis tellus, innabilis unda ) ihnen weder zu stehen, | ||||||
24 | noch zu schwimmen erlaubt, und sich nur flüchtige Schritte thun lassen, | ||||||
25 | von denen die Zeit nicht die mindeste Spur aufbehält, da hingegen ihr | ||||||
26 | Gang in der Mathematik eine Heeresstraße macht, welche noch die späteste | ||||||
27 | Nachkommenschaft mit Zuversicht betreten kann. | ||||||
28 | Da wir es uns zur Pflicht gemacht haben, die Grenzen der reinen | ||||||
29 | Vernunft im transscendentalen Gebrauche genau und mit Gewißheit zu | ||||||
30 | bestimmen, diese Art der Bestrebung aber das Besondere an sich hat, unerachtet | ||||||
31 | der nachdrücklichsten und klärsten Warnungen sich noch immer | ||||||
32 | durch Hoffnung hinhalten zu lassen, ehe man den Anschlag gänzlich aufgiebt, | ||||||
33 | über Grenzen der Erfahrungen hinaus in die reizenden Gegenden | ||||||
34 | des Intellectuellen zu gelangen: so ist es nothwendig, noch gleichsam den | ||||||
35 | letzten Anker einer phantasiereichen Hoffnung wegzunehmen und zu zeigen, | ||||||
36 | daß die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art Erkenntniß | ||||||
37 | nicht den mindesten Vortheil schaffen könne, es müßte denn der sein, die | ||||||
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