Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 454 |
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01 | höchsten Wesens nicht bloß regulativ, sondern (welches der Natur einer | ||||||
02 | Idee zuwider ist) constitutiv braucht, ist die faule Vernunft ( ignava | ||||||
03 | ratio )*). Man kann jeden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man | ||||||
04 | seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, | ||||||
05 | und die Vernunft sich also zur Ruhe begiebt, als ob sie ihr Geschäfte völlig | ||||||
06 | ausgerichtet habe. Daher selbst die psychologische Idee, wenn sie als ein | ||||||
07 | constitutives Princip für die Erklärung der Erscheinungen unserer Seele | ||||||
08 | und hernach gar zur Erweiterung unserer Erkenntniß dieses Subjects noch | ||||||
09 | über alle Erfahrung hinaus (ihren Zustand nach dem Tode) gebraucht | ||||||
10 | wird, es der Vernunft zwar sehr bequem macht, aber auch allen Naturgebrauch | ||||||
11 | derselben nach der Leitung der Erfahrungen ganz verdirbt und zu | ||||||
12 | Grunde richtet. So erklärt der dogmatische Spiritualist die durch allen | ||||||
13 | Wechsel der Zustände unverändert bestehende Einheit der Person aus der | ||||||
14 | Einheit der denkenden Substanz, die er in dem Ich unmittelbar wahrzunehmen | ||||||
15 | glaubt, das Interesse, was wir an Dingen nehmen, die sich allererst | ||||||
16 | nach unserem Tode zutragen sollen, aus dem Bewußtsein der immateriellen | ||||||
17 | Natur unseres denkenden Subjects etc. und überhebt sich aller Naturuntersuchung | ||||||
18 | der Ursache dieser unserer inneren Erscheinungen aus | ||||||
19 | physischen Erklärungsgründen, indem er gleichsam durch den Machtspruch | ||||||
20 | einer transscendenten Vernunft die immanenten Erkenntnißquellen der | ||||||
21 | Erfahrung zum Behuf seiner Gemächlichkeit, aber mit Einbuße aller Einsicht | ||||||
22 | vorbeigeht. Noch deutlicher fällt diese nachtheilige Folge bei dem | ||||||
23 | Dogmatism unserer Idee von einer höchsten Intelligenz und dem darauf | ||||||
24 | fälschlich gegründeten theologischen System der Natur (Physikotheologie) | ||||||
25 | in die Augen. Denn da dienen alle sich in der Natur zeigende, oft nur | ||||||
26 | von uns selbst dazu gemachte Zwecke dazu, es uns in der Erforschung der | ||||||
27 | Ursachen recht bequem zu machen, nämlich anstatt sie in den allgemeinen | ||||||
28 | Gesetzen des Mechanismus der Materie zu suchen, sich geradezu auf den | ||||||
29 | unerforschlichen Rathschluß der höchsten Weisheit zu berufen und die Vernunftbemühung | ||||||
30 | alsdann für vollendet anzusehen, wenn man sich ihres | ||||||
31 | Gebrauchs überhebt, der doch nirgend einen Leitfaden findet, als wo ihn | ||||||
*)So nannten die alten Dialektiker einen Trugschluß, der so lautete: Wenn es dein Schicksal mit sich bringt, du sollst von dieser Krankheit genesen, so wird es geschehen, du magst einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero sagt, daß diese Art zu schließen ihren Namen daher habe, daß, wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft im Leben übrig bleibe. Dieses ist die Ursache, warum ich das sophistische Argument der reinen Vernunft mit demselben Namen belege. | |||||||
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