Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 254 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Ich verstehe unter der Idee einen nothwendigen Vernunftbegriff, | ||||||
02 | dem kein congruirender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. | ||||||
03 | Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transscendentale | ||||||
04 | Ideen. Sie sind Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles | ||||||
05 | Erfahrungserkenntniß als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. | ||||||
06 | Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur | ||||||
07 | der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher nothwendiger Weise | ||||||
08 | auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transscendent und | ||||||
09 | übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand | ||||||
10 | vorkommen kann, der der transscendentalen Idee adäquat wäre. | ||||||
11 | Wenn man eine Idee nennt, so sagt man dem Object nach (als von einem | ||||||
12 | Gegenstande des reinen Verstandes) sehr viel, dem Subjecte nach aber | ||||||
13 | (d. i. in Ansehung seiner Wirklichkeit unter empirischer Bedingung) eben | ||||||
14 | darum sehr wenig, weil sie, als der Begriff eines Maximum, in concreto | ||||||
15 | niemals congruent kann gegeben werden. Weil nun das letztere im bloß | ||||||
16 | speculativen Gebrauch der Vernunft eigentlich die ganze Absicht ist, und | ||||||
17 | die Annäherung zu einem Begriffe, der aber in der Ausübung doch niemals | ||||||
18 | erreicht wird, eben so viel ist, als ob der Begriff ganz und gar verfehlt | ||||||
19 | würde, so heißt es von einem dergleichen Begriffe: er ist nur eine | ||||||
20 | Idee. So würde man sagen können: das absolute Ganze aller Erscheinungen | ||||||
21 | ist nur eine Idee, denn da wir dergleichen niemals im Bilde | ||||||
22 | entwerfen können, so bleibt es ein Problem ohne alle Auflösung. Dagegen | ||||||
23 | weil es im praktischen Gebrauch des Verstandes ganz allein um die | ||||||
24 | Ausübung nach Regeln zu thun ist, so kann die Idee der praktischen Vernunft | ||||||
25 | jederzeit wirklich, ob zwar nur zum Theil, in concreto gegeben werden, | ||||||
26 | ja sie ist die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs | ||||||
27 | der Vernunft. Ihre Ausübung ist jederzeit begrenzt und mangelhaft, | ||||||
28 | aber unter nicht bestimmbaren Grenzen, also jederzeit unter dem Einflusse | ||||||
29 | des Begriffs einer absoluten Vollständigkeit. Demnach ist die praktische | ||||||
30 | Idee jederzeit höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen | ||||||
31 | unumgänglich nothwendig. In ihr hat die reine Vernunft sogar | ||||||
32 | Causalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält; daher | ||||||
33 | kann man von der Weisheit nicht gleichsam geringschätzig sagen: sie ist | ||||||
34 | nur eine Idee; sondern eben darum, weil sie die Idee von der nothwendigen | ||||||
35 | Einheit aller möglichen Zwecke ist, so muß sie allem Praktischen | ||||||
36 | als ursprüngliche, zum wenigsten einschränkende Bedingung zur Regel | ||||||
37 | dienen. | ||||||
[ Seite 253 ] [ Seite 255 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |