Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 368 |
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| 01 | jederzeit stützen müssen. In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft | ||||||
| 02 | von den Grenzen der menschlichen Vernunft, und da ein kleines | ||||||
| 03 | Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt seine | ||||||
| 04 | Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Eroberungen | ||||||
| 05 | auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Wissenschaft der | ||||||
| 06 | unbekannteste und zugleich der wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich | ||||||
| 07 | spät und nach langer Erfahrung erreicht wird. Ich habe diese Grenze hier | ||||||
| 08 | zwar nicht genau bestimmt, aber doch in so weit angezeigt, daß der Leser | ||||||
| 09 | bei weiterem Nachdenken finden wird, er könne sich aller vergeblichen Nachforschung | ||||||
| 10 | überheben in Ansehung einer Frage, wozu die data in einer | ||||||
| 11 | andern Welt, als in welcher er empfindet, anzutreffen sind. Ich habe also | ||||||
| 12 | meine Zeit verloren, damit ich sie gewönne. Ich habe meinen Leser hintergangen, | ||||||
| 13 | damit ich ihm nützte, und wenn ich ihm gleich keine neue Einsicht | ||||||
| 14 | darbot, so vertilgte ich doch den Wahn und das eitele Wissen, welches den | ||||||
| 15 | Verstand aufbläht und in seinem engen Raume den Platz ausfüllt, den | ||||||
| 16 | die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen | ||||||
| 17 | könnten. | ||||||
| 18 | Wen die bisherigen Betrachtungen ermüdet haben, ohne ihn zu belehren, | ||||||
| 19 | dessen Ungeduld kann sich nunmehr damit aufrichten, was Diogenes, | ||||||
| 20 | wie man sagt, seinen gähnenden Zuhörern zusprach, als er das | ||||||
| 21 | letzte Blatt eines langweiligen Buchs sah: Courage, meine Herren, ich | ||||||
| 22 | sehe Land. Vorher wandelten wir wie Demokrit im leeren Raume, | ||||||
| 23 | wohin uns die Schmetterlingsflügel der Metaphysik gehoben hatten, | ||||||
| 24 | und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Jetzt, da die stiptische | ||||||
| 25 | Kraft der Selbsterkenntniß die seidene Schwingen zusammengezogen | ||||||
| 26 | hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der Erfahrung | ||||||
| 27 | und des gemeinen Verstandes; glücklich! wenn wir denselben als unseren | ||||||
| 28 | angewiesenen Platz betrachten, aus welchem wir niemals ungestraft hinausgehen, | ||||||
| 29 | und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange | ||||||
| 30 | wir uns am Nützlichen halten. | ||||||
| 31 | Drittes Hauptstück. |
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| 32 | Praktischer Schluß aus der ganzen Abhandlung. |
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| 33 | Einem jeden Vorwitze nachzuhängen und der Erkenntnißsucht keine | ||||||
| 34 | andre Grenzen zu verstatten als das Unvermögen, ist ein Eifer, welcher | ||||||
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