Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 358 |
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| 01 | zu beobachten. Denn da ich den dogmatischen Theil vor dem historischen | ||||||
| 02 | und also die Vernunftgründe vor der Erfahrung voranschickte, so gab ich | ||||||
| 03 | Ursache zu dem Argwohn, als wenn ich mit Hinterlist umginge und, da | ||||||
| 04 | ich die Geschichte schon vielleicht zum Voraus im Kopfe gehabt haben | ||||||
| 05 | mochte, mich nur so angestellt hätte, als wüßte ich von nichts, als von | ||||||
| 06 | reinen, abgesonderten Betrachtungen, damit ich den Leser, der sich nichts | ||||||
| 07 | dergleichen besorgt, am Ende mit einer erfreulichen Bestätigung aus der | ||||||
| 08 | Erfahrung überraschen könnte. Und in der That ist dieses auch ein Kunstgriff, | ||||||
| 09 | dessen die Philosophen sich mehrmals sehr glücklich bedient haben. | ||||||
| 10 | Denn man muß wissen, daß alle Erkenntniß zwei Enden habe, bei denen | ||||||
| 11 | man sie fassen kann, das eine a priori, das andere a posteriori. Zwar | ||||||
| 12 | haben verschiedene Naturlehrer neuerer Zeiten vorgegeben, man müsse es | ||||||
| 13 | bei dem letzteren anfangen, und glauben den Aal der Wissenschaft beim | ||||||
| 14 | Schwanze zu erwischen, indem sie sich gnugsamer Erfahrungskenntnisse | ||||||
| 15 | versichern und dann so allmählig zu allgemeinen und höheren Begriffen | ||||||
| 16 | hinaufrücken. Allein ob dieses zwar nicht unklug gehandelt sein möchte: | ||||||
| 17 | so ist es doch bei weitem nicht gelehrt und philosophisch gnug, denn man | ||||||
| 18 | ist auf diese Art bald bei einem Warum, worauf keine Antwort gegeben | ||||||
| 19 | werden kann, welches einem Philosophen gerade so viel Ehre macht als | ||||||
| 20 | einem Kaufmann, der bei einer Wechselzahlung freundlich bittet, ein andermal | ||||||
| 21 | wieder anzusprechen. Daher haben scharfsinnige Männer, um | ||||||
| 22 | diese Unbequemlichkeit zu vermeiden, von der entgegengesetzten äußersten | ||||||
| 23 | Grenze, nämlich dem obersten Punkte der Metaphysik, angefangen. Es | ||||||
| 24 | findet sich aber hiebei eine neue Beschwerlichkeit, nämlich daß man anfängt, | ||||||
| 25 | ich weiß nicht wo, und kommt, ich weiß nicht wohin, und daß der | ||||||
| 26 | Fortgang der Gründe nicht auf die Erfahrung treffen will, ja daß es | ||||||
| 27 | scheint, die Atomen des Epikurs dürften eher, nachdem sie von Ewigkeit | ||||||
| 28 | her immer gefallen, einmal von ungefähr zusammenstoßen, um eine Welt | ||||||
| 29 | zu bilden, als die allgemeinsten und abstractesten Begriffe, um sie zu erklären. | ||||||
| 30 | Da also der Philosoph wohl sah, daß seine Vernunftgründe einerseits | ||||||
| 31 | und die wirkliche Erfahrung oder Erzählung andererseits, wie ein | ||||||
| 32 | paar Parallellinien wohl ins Unendliche neben einander fortlaufen würden, | ||||||
| 33 | ohne jemals zusammen zu treffen, so ist er mit den übrigen, gleich | ||||||
| 34 | als wenn sie darüber Abrede genommen hätten, übereingekommen ein | ||||||
| 35 | jeder nach seiner Art den Anfangspunkt zu nehmen und darauf nicht | ||||||
| 36 | in der geraden Linie der Schlußfolge, sondern mit einem unmerklichen | ||||||
| 37 | Clinamen der Beweisgründe, dadurch daß sie nach dem Ziele gewisser | ||||||
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