Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 300 |
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01 | Nothwendigkeit dieser Handlung ein unerweislicher materialer Grundsatz | ||||||
02 | der Verbindlichkeit. Z. E. Liebe den, der dich liebt, ist ein praktischer Satz, | ||||||
03 | der zwar unter der obersten formalen und bejahenden Regel der Verbindlichkeit | ||||||
04 | steht, aber unmittelbar. Denn da es nicht weiter durch Zergliederung | ||||||
05 | kann gezeigt werden, warum eine besondere Vollkommenheit in der | ||||||
06 | Gegenliebe stecke, so wird diese Regel nicht praktisch, d. i. vermittelst der | ||||||
07 | Zurückführung auf die Nothwendigkeit einer andern vollkommenen Handlung, | ||||||
08 | bewiesen, sondern unter der allgemeinen Regel guter Handlungen | ||||||
09 | unmittelbar subsumirt. Vielleicht daß mein angezeigtes Beispiel nicht | ||||||
10 | deutlich und überzeugend genug die Sache darthut; allein die Schranken | ||||||
11 | einer Abhandlung, wie die gegenwärtige ist, die ich vielleicht schon überschritten | ||||||
12 | habe, erlauben mir nicht diejenige Vollständigkeit, die ich wohl | ||||||
13 | wünschte. Es ist eine unmittelbare Häßlichkeit in der Handlung, die dem | ||||||
14 | Willen desjenigen, von dem unser Dasein und alles Gute herkommt, widerstreitet. | ||||||
15 | Diese Häßlichkeit ist klar, wenn gleich nicht auf die Nachtheile | ||||||
16 | gesehen wird, die als Folgen ein solches Verfahren begleiten können. Daher | ||||||
17 | der Satz: thue das, was dem Willen Gottes gemäß ist, ein materialer | ||||||
18 | Grundsatz der Moral wird, der gleichwohl formaliter unter der schon erwähnten | ||||||
19 | obersten und allgemeinen Formel, aber unmittelbar steht. Man | ||||||
20 | muß eben so wohl in der praktischen Weltweisheit, wie in der theoretischen | ||||||
21 | nicht so leicht etwas für unerweislich halten, was es nicht ist. Gleichwohl | ||||||
22 | können diese Grundsätze nicht entbehrt werden, welche als Postulata die | ||||||
23 | Grundlagen zu den übrigen praktischen Sätzen enthalten. Hutcheson und | ||||||
24 | andere haben unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon einen | ||||||
25 | Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert. | ||||||
26 | Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den | ||||||
27 | ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz | ||||||
28 | zu erreichen, gleichwohl die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit | ||||||
29 | allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel | ||||||
30 | der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem | ||||||
31 | noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnißvermögen | ||||||
32 | oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) | ||||||
33 | die erste Grundsätze dazu entscheide. | ||||||
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