| Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 280 | |||||||
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| 01 | ist gewiß, daß ein jeder Begriff in Ansehung einer Disciplin unauflöslich | ||||||
| 02 | ist, der, er mag sonst können erklärt werden oder nicht, es in dieser Wissenschaft | ||||||
| 03 | wenigstens nicht bedarf. Und ich habe gesagt, daß deren in der | ||||||
| 04 | Mathematik nur wenige wären. Ich gehe aber noch weiter und behaupte, | ||||||
| 05 | daß eigentlich gar keine in ihr vorkommen können, nämlich in dem Verstande: | ||||||
| 06 | daß ihre Erklärung durch Zergliederung der Begriffe zur mathematischen | ||||||
| 07 | Erkenntniß gehörte; gesetzt, daß sie auch sonst möglich wäre. | ||||||
| 08 | Denn die Mathematik erklärt niemals durch Zergliederung einen gegebenen | ||||||
| 09 | Begriff, sondern durch willkürliche Verbindung ein Object, dessen | ||||||
| 10 | Gedanke eben dadurch zuerst möglich wird. | ||||||
| 11 | Vergleicht man hiemit die Weltweisheit, welcher Unterschied leuchtet | ||||||
| 12 | da in die Augen? In allen ihren Disciplinen, vornehmlich in der Metaphysik | ||||||
| 13 | ist eine jede Zergliederung, die geschehen kann, auch nöthig, denn | ||||||
| 14 | sowohl die Deutlichkeit der Erkenntniß als die Möglichkeit sicherer Folgerungen | ||||||
| 15 | hängt davon ab. Allein man sieht gleich zum voraus, daß es unvermeidlich | ||||||
| 16 | sei, in der Zergliederung auf unauflösliche Begriffe zu kommen, | ||||||
| 17 | die es entweder an und für sich selbst oder für uns sein werden, und | ||||||
| 18 | daß es deren ungemein viel geben werde, nachdem es unmöglich ist, daß | ||||||
| 19 | allgemeine Erkenntnisse von so großer Mannigfaltigkeit nur aus wenigen | ||||||
| 20 | Grundbegriffen zusammengesetzt sein sollten. Daher viele beinahe gar | ||||||
| 21 | nicht aufgelöset werden können, z. E. der Begriff einer Vorstellung, das | ||||||
| 22 | neben einander oder nach einander sein, andere nur zum Theil, wie | ||||||
| 23 | der Begriff vom Raume, von der Zeit, von dem mancherlei Gefühle der | ||||||
| 24 | menschlichen Seele, dem Gefühl des Erhabenen, des Schönen, des | ||||||
| 25 | Ekelhaften etc., ohne deren genaue Kenntniß und Auflösung die | ||||||
| 26 | Triebfedern unserer Natur nicht genug bekannt sind, und wo gleichwohl | ||||||
| 27 | ein sorgfältiger Aufmerker gewahr wird, daß die Zergliederung bei weitem | ||||||
| 28 | nicht zulänglich sei. Ich gestehe, daß die Erklärungen von der Lust und | ||||||
| 29 | Unlust, der Begierde und dem Abscheu und dergleichen unzählige niemals | ||||||
| 30 | durch hinreichende Auflösungen sind geliefert worden, und ich wundere | ||||||
| 31 | mich über diese Unauflöslichkeit nicht. Denn bei Begriffen von so verschiedener | ||||||
| 32 | Art müssen wohl unterschiedliche Elementarbegriffe zum Grunde liegen. | ||||||
| 33 | Der Fehler, den einige begangen haben, alle dergleichen Erkenntnisse als | ||||||
| 34 | solche zu behandeln, die in einige wenige einfache Begriffe insgesammt sich | ||||||
| 35 | zerlegen ließen, ist demjenigen ähnlich, darin die alten Naturlehrer fielen: | ||||||
| 36 | daß alle Materie der Natur aus den sogenannten vier Elementen bestehe, | ||||||
| 37 | welcher Gedanke durch bessere Beobachtung ist aufgehoben worden. | ||||||
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