Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 277 |
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| 01 | werden. Ich muß diese Idee in allerlei Beziehungen betrachten, um | ||||||
| 02 | Merkmale derselben durch Zergliederung zu entdecken, verschiedene abstrahirte | ||||||
| 03 | Merkmale verknüpfen, ob sie einen zureichenden Begriff geben, und | ||||||
| 04 | unter einander zusammenhalten, ob nicht zum Theil eins die andre in sich | ||||||
| 05 | schließe. Wollte ich hier synthetisch auf eine Definition der Zeit zu kommen | ||||||
| 06 | suchen, welch ein glücklicher Zufall müßte sich ereignen, wenn dieser Begriff | ||||||
| 07 | gerade derjenige wäre, der die uns gegebene Idee völlig ausdrückte! | ||||||
| 08 | Indessen, wird man sagen, erklären die Philosophen bisweilen auch | ||||||
| 09 | synthetisch und die Mathematiker analytisch: z. E. wenn der Philosoph | ||||||
| 10 | eine Substanz mit dem Vermögen der Vernunft sich willkürlicher Weise | ||||||
| 11 | gedenkt und sie einen Geist nennt. Ich antworte aber: dergleichen Bestimmungen | ||||||
| 12 | einer Wortbedeutung sind niemals philosophische Definitionen, | ||||||
| 13 | sondern wenn sie ja Erklärungen heißen sollen, so sind es nur grammatische. | ||||||
| 14 | Denn dazu gehört gar nicht Philosophie, um zu sagen, was für | ||||||
| 15 | einen Namen ich einem willkürlichen Begriffe will beigelegt wissen. Leibniz | ||||||
| 16 | dachte sich eine einfache Substanz, die nichts als dunkle Vorstellungen | ||||||
| 17 | hätte, und nannte sie eine schlummernde Monade. Hier hatte er nicht | ||||||
| 18 | diese Monas erklärt, sondern erdacht: denn der Begriff derselben war ihm | ||||||
| 19 | nicht gegeben, sondern von ihm erschaffen worden. Die Mathematiker | ||||||
| 20 | haben dagegen bisweilen analytisch erklärt, ich gestehe es, aber es ist auch | ||||||
| 21 | jederzeit ein Fehler gewesen. So hat Wolff die Ähnlichkeit in der Geometrie | ||||||
| 22 | mit philosophischem Auge erwogen, um unter dem allgemeinen Begriffe | ||||||
| 23 | derselben auch die in der Geometrie vorkommende zu befassen. Er | ||||||
| 24 | hätte es immer können unterwegens lassen; denn wenn ich mir Figuren | ||||||
| 25 | denke, in welchen die Winkel, die die Linien des Umkreises einschließen, | ||||||
| 26 | gegenseitig gleich sind, und die Seiten, die sie einschließen, einerlei Verhältniß | ||||||
| 27 | haben, so kann dieses allemal als die Definition der Ähnlichkeit | ||||||
| 28 | der Figuren angesehen werden, und so mit den übrigen Ähnlichkeiten der | ||||||
| 29 | Räume. Dem Geometra ist an der allgemeinen Definition der Ähnlichkeit | ||||||
| 30 | überhaupt gar nichts gelegen. Es ist ein Glück für die Mathematik, daß, | ||||||
| 31 | wenn bisweilen durch eine übelverstandene Obliegenheit der Meßkünstler | ||||||
| 32 | sich mit solchen analytischen Erklärungen einläßt, doch in der That bei ihm | ||||||
| 33 | nichts daraus gefolgert wird, oder auch seine nächste Folgerungen im Grunde | ||||||
| 34 | die mathematische Definition ausmachen; sonst würde diese Wissenschaft | ||||||
| 35 | eben demselben unglücklichen Zwiste ausgesetzt sein als die Weltweisheit. | ||||||
| 36 | Der Mathematiker hat mit Begriffen zu thun, die öfters noch einer | ||||||
| 37 | philosophischen Erklärung fähig sind wie z. E. mit dem Begriffe vom | ||||||
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