Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 260 |
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| 01 | die Krankheiten des Kopfes und des Herzens aus dem Grunde zu heben, | ||||||
| 02 | ich doch Bedenken tragen würde diesen altväterischen Plunder dem öffentlichen | ||||||
| 03 | Gewerbe in den Weg zu legen, wohlbewußt, daß die beliebte Modecur | ||||||
| 04 | des Verstandes und des Herzens schon in erwünschtem Fortgange sei | ||||||
| 05 | und daß vornehmlich die Ärzte des ersteren, die sich Logiker nennen, sehr | ||||||
| 06 | gut dem allgemeinen Verlangen Gnüge leisten, seitdem sie die wichtige | ||||||
| 07 | Entdeckung gemacht haben: daß der menschliche Kopf eigentlich eine | ||||||
| 08 | Trommel sei, die nur darum klingt, weil sie leer ist. Ich sehe demnach | ||||||
| 09 | nichts Besseres für mich, als die Methode der Ärzte nachzuahmen, welche | ||||||
| 10 | glauben, ihrem Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn sie seiner | ||||||
| 11 | Krankheit einen Namen geben, und entwerfe eine kleine Onomastik der | ||||||
| 12 | Gebrechen des Kopfes von der Lähmung desselben an in der Blödsinnigkeit | ||||||
| 13 | bis zu dessen Verzuckungen in der Tollheit; aber um diese ekelhafte | ||||||
| 14 | Krankheiten in ihrer allmählichen Abstammung zu erkennen, finde ich | ||||||
| 15 | nöthig, zum voraus die mildere Grade derselben von der Dummköpfigkeit | ||||||
| 16 | an bis zur Narrheit zu erläutern, weil diese Eigenschaften im bürgerlichen | ||||||
| 17 | Verhältnisse gangbarer sind und dennoch zu den ersteren führen. | ||||||
| 18 | Der stumpfe Kopf ermangelt des Witzes, der Dummkopf des | ||||||
| 19 | Verstandes. Die Behendigkeit etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen | ||||||
| 20 | die Leichtigkeit, es geziemend auszudrücken, kommen gar sehr auf | ||||||
| 21 | den Witz an; daher derjenige, welcher nicht dumm ist, gleichwohl sehr | ||||||
| 22 | stumpf sein kann, in sofern ihm schwerlich etwas in den Kopf will, ob er | ||||||
| 23 | es gleich nachher mit größerer Reife des Urtheils einsehen mag, und die | ||||||
| 24 | Schwierigkeit sich ausdrücken zu können beweiset nichts minder als die | ||||||
| 25 | Verstandesfähigkeit, sondern nur, daß der Witz nicht genugsame Beihülfe | ||||||
| 26 | leiste, den Gedanken in die mancherlei Zeichen einzukleiden, deren einige | ||||||
| 27 | ihm am geschicktesten anpassen. Der berühmte Jesuit Clavius wurde | ||||||
| 28 | als unfähig aus den Schulen gejagt (denn nach der Verstandesprobe der | ||||||
| 29 | Orbile ist ein Knabe zu gar nichts nütze, wenn er weder Verse noch Schulchrien | ||||||
| 30 | machen kann), er gerieth nachher zufälliger Weise auf die Mathematik, | ||||||
| 31 | das Spiel änderte sich, und seine vormaligen Lehrer waren gegen | ||||||
| 32 | ihn nur Dummköpfe. Das praktische Urtheil über Sachen, so wie es der | ||||||
| 33 | Landmann, der Künstler oder Seefahrer etc. bedarf, ist von demjenigen | ||||||
| 34 | sehr unterschieden, welches man über die Handgriffe fällt, wonach sich | ||||||
| 35 | Menschen unter einander behandeln. Das letztere ist nicht sowohl Verstand, | ||||||
| 36 | als vielmehr Verschmitztheit, und der liebenswürdige Mangel dieser | ||||||
| 37 | so sehr gepriesenen Fähigkeit heißt Einfalt. Ist die Ursache derselben in | ||||||
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