Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 227 |
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| 01 | der großen Natur gehört, diese groteske Stellungen nicht anders als einen | ||||||
| 02 | edelen Ausdruck geben können, ob man schon viel zu kurzsichtig ist, sie in | ||||||
| 03 | diesem Verhältnisse zu übersehen. Um indessen doch einen schwachen Blick | ||||||
| 04 | hierauf zu werfen: so glaube ich folgendes anmerken zu können. Derjenigen | ||||||
| 05 | unter den Menschen, die nach Grundsätzen verfahren, sind nur sehr | ||||||
| 06 | wenige, welches auch überaus gut ist, daßes so leicht geschehen kann, da | ||||||
| 07 | man in diesen Grundsätzen irre und alsdann der Nachtheil, der daraus | ||||||
| 08 | erwächst, sich um desto weiter erstreckt, je allgemeiner der Grundsatz und | ||||||
| 09 | je standhafter die Person ist, die ihn sich vorgesetzt hat. Derer, so aus | ||||||
| 10 | gutherzigen Trieben handeln, sind weit mehrere, welches äußerst | ||||||
| 11 | vortrefflich ist, ob es gleich einzeln nicht als ein sonderliches Verdienst der | ||||||
| 12 | Person kann angerechnet werden; denn diese tugendhafte Instincte fehlen | ||||||
| 13 | wohl bisweilen, allein im Durchschnitte leisten sie eben so wohl die große | ||||||
| 14 | Absicht der Natur, wie die übrige Instincte, die so regelmäßig die thierische | ||||||
| 15 | Welt bewegen. Derer, die ihr allerliebstes Selbst als den einzigen Beziehungspunkt | ||||||
| 16 | ihrer Bemühungen starr vor Augen haben, und die um | ||||||
| 17 | den Eigennutz als um die große Achse alles zu drehen suchen, giebt es | ||||||
| 18 | die meiste, worüber auch nichts Vortheilhafteres sein kann, denn diese | ||||||
| 19 | sind die emsigsten, ordentlichsten und behutsamsten; sie geben dem Ganzen | ||||||
| 20 | Haltung und Festigkeit, indem sie auch ohne ihre Absicht gemeinnützig | ||||||
| 21 | werden, die nothwendigen Bedürfnisse herbeischaffen und die Grundlage | ||||||
| 22 | liefern, über welche feinere Seelen Schönheit und Wohlgereimtheit verbreiten | ||||||
| 23 | können. Endlich ist die Ehrliebe in aller Menschen Herzen, obzwar | ||||||
| 24 | in ungleichem Maße, verbreitet worden, welches dem Ganzen eine | ||||||
| 25 | bis zur Bewunderung reizende Schönheit geben muß. Denn wiewohl die | ||||||
| 26 | Ehrbegierde ein thörichter Wahn ist, so fern er zur Regel wird, der man die | ||||||
| 27 | übrigen Neigungen unterordnet, so ist sie doch als ein begleitender Trieb | ||||||
| 28 | äußerst vortrefflich. Denn indem ein jeder auf der großen Bühne seinen | ||||||
| 29 | herrschenden Neigungen gemäß die Handlungen verfolgt, so wird er zugleich | ||||||
| 30 | durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken außer sich | ||||||
| 31 | selbst einen Standpunkt zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den | ||||||
| 32 | sein Betragen hat, wie es aussehe und dem Zuschauer in die Augen falle. | ||||||
| 33 | Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von | ||||||
| 34 | prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit | ||||||
| 35 | hervorleuchtet, und das Ganze der moralischen Natur Schönheit und Würde | ||||||
| 36 | an sich zeigt. | ||||||
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