Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 224 |
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| 01 | selbst ist, so erwirbt er vor gemeinen Augen eben die Hochschätzung als | ||||||
| 02 | der Tugendhafte, aber vor feineren Augen verbirgt er sich sorgfältig, weil | ||||||
| 03 | er wohl weiß, daß die Entdeckung der geheimen Triebfeder der Ehrbegierde | ||||||
| 04 | ihn um die Achtung bringen würde. Er ist daher der Verstellung sehr ergeben, | ||||||
| 05 | in der Religion heuchlerisch, im Umgange ein Schmeichler, in | ||||||
| 06 | Staatsparteien wetterwendisch nach den Umständen. Er ist gerne ein | ||||||
| 07 | Sklave der Großen, um dadurch ein Tyrann über Geringere zu werden. | ||||||
| 08 | Die Naivetät, diese edle oder schöne Einfalt, welche das Siegel der Natur | ||||||
| 09 | und nicht der Kunst auf sich trägt, ist ihm gänzlich fremde. Daher wenn | ||||||
| 10 | sein Geschmack ausartet, so wird sein Schimmer schreiend, d. i. auf eine | ||||||
| 11 | widrige Art prahlend. Er geräth alsdann sowohl seinem Stil als dem | ||||||
| 12 | Ausputze nach in den Gallimathias (das Übertriebene), eine Art Fratzen, | ||||||
| 13 | die in Ansehung des Prächtigen dasjenige ist, was das Abenteuerliche | ||||||
| 14 | oder Grillenhafte in Ansehung des Ernsthaft=Erhabenen. In Beleidigungen | ||||||
| 15 | fällt er alsdann auf Zweikämpfe oder Processe und in dem bürgerlichen | ||||||
| 16 | Verhältnisse auf Ahnen, Vortritt und Titel. So lange er nur | ||||||
| 17 | noch eitel ist, d. i. Ehre sucht und bemüht ist in die Augen zu fallen, so | ||||||
| 18 | kann er noch wohl geduldet werden, allein wenn bei gänzlichem Mangel | ||||||
| 19 | wirklicher Vorzüge und Talente er aufgeblasen wird, so ist er das, wofür | ||||||
| 20 | er am mindesten gerne möchte gehalten werden, nämlich ein Narr. | ||||||
| 21 | Da in der phlegmatischen Mischung keine Ingredienzien vom Erhabenen | ||||||
| 22 | oder Schönen in sonderlich merklichem Grade hineinzukommen | ||||||
| 23 | pflegen, so gehört diese Gemüthseigenschaft nicht in den Zusammenhang | ||||||
| 24 | unserer Erwägungen. | ||||||
| 25 | Von welcher Art auch diese feinere Empfindungen sein mögen, von | ||||||
| 26 | denen wir bis daher gehandelt haben, es mögen erhabene oder schöne sein, | ||||||
| 27 | so haben sie doch das Schicksal gemein, daß sie in dem Urtheil desjenigen, | ||||||
| 28 | der kein darauf gestimmtes Gefühl hat, jederzeit verkehrt und ungereimt | ||||||
| 29 | scheinen. Ein Mensch von einer ruhigen und eigennützigen Emsigkeit hat | ||||||
| 30 | so zu reden gar nicht die Organen, um den edlen Zug in einem Gedichte | ||||||
| 31 | oder in einer Heldentugend zu empfinden, er liest lieber einen Robinson | ||||||
| 32 | als einen Grandison und hält den Cato für einen eigensinnigen Narren. | ||||||
| 33 | Eben so scheint Personen von etwas ernsthafter Gemüthsart dasjenige | ||||||
| 34 | läppisch, was andern reizend ist, und die gaukelnde Naivetät einer Schäferhandlung | ||||||
| 35 | ist ihnen abgeschmackt und kindisch. Auch selbst wenn das Gemüth | ||||||
| 36 | nicht gänzlich ohne ein einstimmiges feineres Gefühl ist, sind doch | ||||||
| 37 | die Grade der Reizbarkeit desselben sehr verschieden, und man sieht, daß | ||||||
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