Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 223 |
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| 01 | inneren Gehalt der Sache oder Person, der vielleicht nur schlecht und gemein | ||||||
| 02 | ist, verbirgt und durch den Schein täuscht und rührt. So wie ein | ||||||
| 03 | Gebäude durch eine Übertünchung, welche gehauene Steine vorstellt, einen | ||||||
| 04 | eben so edlen Eindruck macht, als wenn es wirklich daraus bestände, und | ||||||
| 05 | geklebte Gesimse und Pilastern die Meinung von Festigkeit geben, ob sie | ||||||
| 06 | gleich wenig Haltung haben und nichts unterstützen: also glänzen auch | ||||||
| 07 | tombackene Tugenden, Flittergold von Weisheit und gemaltes Verdienst. | ||||||
| 08 | Der Cholerische betrachtet seinen eigenen Werth und den Werth seiner | ||||||
| 09 | Sachen und Handlungen aus dem Anstande oder dem Scheine, womit er | ||||||
| 10 | in die Augen fällt. In Ansehung der innern Beschaffenheit und der Bewegungsgründe, | ||||||
| 11 | die der Gegenstand selber enthält, ist er kalt, weder erwärmt | ||||||
| 12 | durch wahres Wohlwollen, noch gerührt durch Achtung.*) Sein | ||||||
| 13 | Betragen ist künstlich. Er muß allerlei Standpunkte zu nehmen wissen, | ||||||
| 14 | um seinen Anstand aus der verschiedenen Stellung der Zuschauer zu beurtheilen; | ||||||
| 15 | denn er frägt wenig darnach, was er sei, sondern nur was er | ||||||
| 16 | scheine. Um deswillen muß er die Wirkung auf den allgemeinen Geschmack | ||||||
| 17 | und die mancherlei Eindrücke wohl kennen, die sein Verhalten außer ihm | ||||||
| 18 | haben wird. Da er in dieser schlauen Aufmerksamkeit durchaus kalt Blut | ||||||
| 19 | bedarf und nicht durch Liebe, Mitleiden und Theilnehmung seines Herzens | ||||||
| 20 | sich muß blenden lassen, so wird er auch vielen Thorheiten und Verdrießlichkeiten | ||||||
| 21 | entgehen, in welche ein Sanguinischer geräth, der durch seine | ||||||
| 22 | unmittelbare Empfindung bezaubert wird. Um deswillen scheint er gemeiniglich | ||||||
| 23 | verständiger, als er wirklich ist. Sein Wohlwollen ist Höflichkeit, | ||||||
| 24 | seine Achtung Ceremonie, seine Liebe ausgesonnene Schmeichelei. Er | ||||||
| 25 | ist jederzeit voll von sich selbst, wenn er den Anstand eines Liebhabers oder | ||||||
| 26 | eines Freundes annimmt, und ist niemals weder das eine noch das andere. | ||||||
| 27 | Er sucht durch Moden zu schimmern; aber weil alles an ihm künstlich und | ||||||
| 28 | gemacht ist, so ist er darin steif und ungewandt. Er handelt weit mehr | ||||||
| 29 | nach Grundsätzen als der Sanguinische, der bloß durch gelegentliche Eindrücke | ||||||
| 30 | bewegt wird; aber diese sind nicht Grundsätze der Tugend, sondern | ||||||
| 31 | der Ehre, und er hat kein Gefühl für die Schönheit oder den Werth der | ||||||
| 32 | Handlungen, sondern für das Urtheil der Welt, das sie davon fällen | ||||||
| 33 | möchte. Weil sein Verfahren, in so fern man nicht auf die Quelle sieht, | ||||||
| 34 | daraus es entspringt, übrigens fast eben so gemeinnützig als die Tugend | ||||||
| *) Er hält sich auch sogar nur in so fern für glücklich, als er vermuthet, da er dafür von andern gehalten wird. | |||||||
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