Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 066 |
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| 01 | man sich auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen. Ein finsterer | ||||||
| 02 | Ocean ohne Ufer und ohne Leuchtthürme, wo man es wie der Seefahrer | ||||||
| 03 | auf einem unbeschifften Meere anfangen muß, welcher, so bald er irgendwo | ||||||
| 04 | Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte | ||||||
| 05 | Seeströme seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeachtet, | ||||||
| 06 | die die Kunst zu Schiffen nur immer gebieten mag. | ||||||
| 07 | Diese Demonstration ist indessen noch niemals erfunden worden, | ||||||
| 08 | welches schon von andern angemerkt ist. Was ich hier liefere, ist auch nur | ||||||
| 09 | der Beweisgrund zu einer Demonstration, ein mühsam gesammeltes Baugeräth, | ||||||
| 10 | welches der Prüfung des Kenners vor Augen gelegt ist, um aus | ||||||
| 11 | dessen brauchbaren Stücken nach den Regeln der Dauerhaftigkeit und der | ||||||
| 12 | Wohlgereimtheit das Gebäude zu vollführen. Eben so wenig wie ich dasjenige, | ||||||
| 13 | was ich liefere, für die Demonstration selber will gehalten wissen, | ||||||
| 14 | so wenig sind die Auflösungen der Begriffe, deren ich mich bediene, schon | ||||||
| 15 | Definitionen. Sie sind, wie mich dünkt, richtige Merkmale der Sachen, | ||||||
| 16 | wovon ich handele, tüchtig, um daraus zu abgemessenen Erklärungen zu | ||||||
| 17 | gelangen, an sich selbst um der Wahrheit und Deutlichkeit willen brauchbar, | ||||||
| 18 | aber sie erwarten noch die letzte Hand des Künstlers, um den Definitionen | ||||||
| 19 | beigezählt zu werden. Es giebt eine Zeit, wo man in einer solchen | ||||||
| 20 | Wissenschaft, wie die Metaphysik ist, sich getraut alles zu erklären und alles | ||||||
| 21 | zu demonstriren, und wiederum eine andere, wo man sich nur mit Furcht | ||||||
| 22 | und Mißtrauen an dergleichen Unternehmungen wagt. | ||||||
| 23 | Die Betrachtungen, die ich darlege, sind die Folge eines langen Nachdenkens, | ||||||
| 24 | aber die Art des Vortrages hat das Merkmal einer unvollendeten | ||||||
| 25 | Ausarbeitung an sich, in so fern verschiedene Beschäftigungen die dazu erforderliche | ||||||
| 26 | Zeit nicht übrig gelassen haben. Es ist indessen eine sehr vergebliche | ||||||
| 27 | Einschmeichlung, den Leser um Verzeihung zu bitten, daß man | ||||||
| 28 | ihm, um welcher Ursache willen es auch sei, nur mit etwas Schlechtem habe | ||||||
| 29 | aufwarten können. Er wird es niemals vergeben, man mag sich entschuldigen, | ||||||
| 30 | wie man will. In meinem Falle ist die nicht völlig ausgebildete | ||||||
| 31 | Gestalt des Werks nicht sowohl einer Vernachlässigung als einer Unterlassung | ||||||
| 32 | aus Absichten beizumessen. Ich wollte nur die erste Züge eines | ||||||
| 33 | Hauptrisses entwerfen, nach welchen, wie ich glaube, ein Gebäude von nicht | ||||||
| 34 | geringer Vortrefflichkeit könnte aufgeführt werden, wenn unter geübtern | ||||||
| 35 | Händen die Zeichnung in den Theilen mehr Richtigkeit und im Ganzen | ||||||
| 36 | eine vollendete Regelmäßigkeit erhielte. In dieser Absicht wäre es unnöthig | ||||||
| 37 | gewesen, gar zu viel ängstliche Sorgfalt zu verwenden, um in einzelnen | ||||||
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