Kant: AA II, Gedanken bei dem ... , Seite 039 |
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| 01 | Hochwohlgeborne Frau Rittmeisterin, |
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| 02 | Gnädige Frau! |
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| 03 | Wenn die Menschen unter das Getümmel ihrer Geschäfte und Zerstreuungen | ||||||
| 04 | gewohnt wären bisweilen ernsthafte Augenblicke der lehrreichen | ||||||
| 05 | Betrachtungen zu mengen, dazu sie das tägliche Beispiel der Eitelkeit | ||||||
| 06 | unserer Absichten in dem Schicksale ihrer Mitbürger auffordert: so | ||||||
| 07 | würden ihre Freuden vielleicht weniger rauschend sein, aber die Stelle derselben | ||||||
| 08 | würde eine ruhige Heiterkeit der Seele einnehmen, der keine Zufälle | ||||||
| 09 | mehr unerwartet sind, und selbst die sanfte Schwermuth, dieses zärtliche | ||||||
| 10 | Gefühl, davon ein edles Herz aufschwillt, wenn es in einsamer Stille die | ||||||
| 11 | Nichtswürdigkeit desjenigen erwägt, was bei uns gemeiniglich für groß | ||||||
| 12 | und wichtig gilt, würde mehr wahre Glückseligkeit enthalten als die ungestüme | ||||||
| 13 | Belustigung des Leichtsinnigen und das laute Lachen des Thoren. | ||||||
| 14 | So aber mengt sich der größte Haufe der Menschen sehr begierig in | ||||||
| 15 | das Gedränge derjenigen, die auf der Brücke, welche die Vorsehung über | ||||||
| 16 | einen Theil des Abgrundes der Ewigkeit geschlagen hat, und die wir Leben | ||||||
| 17 | heißen, gewissen Wasserblasen nachlaufen und sich keine Mühe nehmen | ||||||
| 18 | auf die Fallbretter Acht zu haben, die einen nach dem andern neben ihnen | ||||||
| 19 | in die Tiefe herabsinken lassen, deren Maß Unendlichkeit ist, und wovon | ||||||
| 20 | sie selbst endlich mitten in ihrem ungestümen Laufe verschlungen werden. | ||||||
| 21 | Ein gewisser alter Dichter bringt in das Gemälde des menschlichen Lebens | ||||||
| 22 | einen rührenden Zug, indem er den kaum gebornen Menschen abschildert. | ||||||
| 23 | Das Kind, spricht er, erfüllt alsbald die Luft mit traurigem Winseln, wie | ||||||
| 24 | es einer Person zusteht, die in eine Welt treten soll, wo so viel Drangsale | ||||||
| 25 | auf sie warten. Allein in der Folge der Jahre verbindet dieser Mensch | ||||||
| 26 | mit der Kunst sich elend zu machen noch diejenige, es vor sich selbst zu | ||||||
| 27 | verbergen durch die Decke, die er auf die traurigen Gegenstände des Lebens | ||||||
| 28 | wirft, und befleißigt sich einer leichtsinnigen Achtlosigkeit bei der | ||||||
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