Kant: AA I, Geschichte und Naturbeschreibung ... , Seite 460

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Mensch ist von sich selbst so eingenommen, daß er sich lediglich      
  02 als das einzige Ziel der Anstalten Gottes ansieht, gleich als wenn diese      
  03 kein ander Augenmerk hätten als ihn allein, um die Maßregeln in der      
  04 Regierung der Welt darnach einzurichten. Wir wissen, daß der ganze Inbegriff      
  05 der Natur ein würdiger Gegenstand der göttlichen Weisheit und      
  06 seiner Anstalten sei. Wir sind ein Theil derselben und wollen das Ganze      
  07 sein. Die Regeln der Vollkommenheit der Natur im Großen sollen in      
  08 keine Betrachtung kommen, und es soll sich alles bloß in richtiger Beziehung      
  09 auf uns anschicken. Was in der Welt zur Beqümlichkeit und dem      
  10 Vergnügen gereicht, das, stellt man sich vor, sei bloß um unsertwillen da      
  11 und die Natur beginne keine Veränderungen, die irgend eine Ursache der      
  12 Ungemächlichkeit für den Menschen werden, als um sie zu züchtigen, zu      
  13 drohen oder Rache an ihnen auszuüben.      
           
  14 Gleichwohl sehen wir, daß unendlich viel Bösewichter in Ruhe entschlafen,      
  15 daß die Erdbeben gewisse Länder von je her erschüttert haben      
  16 ohne Unterschied der alten oder neuen Einwohner, daß das christliche Peru      
  17 so gut bewegt wird als das heidnische, und daß viele Städte von dieser      
  18 Verwüstung von Anbeginn befreiet geblieben, die über jene sich keines      
  19 Vorzuges der Unsträflichkeit anmaßen können.      
           
  20 So ist der Mensch im Dunkeln, wenn er die Absichten errathen will,      
  21 die Gott in der Regierung der Welt vor Augen hat. Allein wir sind in      
  22 keiner Ungewißheit, wenn es auf die Anwendung ankommt, wie wir diese      
  23 Wege der Vorsehung dem Zwecke derselben gemäß gebrauchen sollen. Der      
  24 Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige      
  25 Hütten zu erbaün. Weil sein ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat, wie      
  26 schön stimmen dazu nicht alle die Verheerungen, die der Unbestand der      
  27 Welt selbst in denjenigen Dingen blicken läßt, die uns die größte und      
  28 wichtigste zu sein scheinen, um uns zu erinnern: daß die Güter der Erden      
  29 unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!      
           
  30 Ich bin weit davon entfernt hiemit anzudeuten, als wenn der Mensch      
  31 einem unwandelbaren Schicksale der Naturgesetze ohne Nachsicht auf seine      
  32 besondere Vortheile überlassen sei. Eben dieselbe höchste Weisheit, von der      
  33 der Lauf der Natur diejenige Richtigkeit entlehnt, die keiner Ausbesserung      
  34 bedarf, hat die niederen Zwecke den höheren untergeordnet, und in eben      
  35 den Absichten, in welchen jene oft die wichtigsten Ausnahmen von den allgemeinen      
  36 Regeln der Natur gemacht hat, um die unendlich höhere Zwecke      
  37 zu erreichen, die weit über alle Naturmittel erhaben sind, wird auch die      
           
     

[ Seite 459 ] [ Seite 461 ] [ Inhaltsverzeichnis ]