Kant: Briefwechsel, Brief 94, Von Gottlob David Hartmann.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Gottlob David Hartmann.      
           
  4. Sept. 1774.      
           
  Ich habe mir von Ihnen, mein theurster Herr Professor, die      
  Erlaubniß ausgebeten, mich mit Ihnen schriftlich zu unterhalten, und      
  nun bin ich schon so lange hier schreibe tagtäglich im Sinn an Sie      
  Aber nun Einmal mache ich mir Vorwürfe darüber, und nun muß      
  ich auch meiner Pflicht Genüge leisten.      
           
  Ich bereue es sehr, daß ich nicht länger in Königsberg geblieben      
  bin, um Ihres Umgangs zu geniessen; und mir Ihren Rath in verschiedenen      
  Arbeiten, welche ich vor mir habe, zu erbitten. Ihre      
  Critik der reinen Vernunft, aus welcher Sie mir so Manches erzählt      
  haben, hat mich bisher recht lange und oft beschäftigt.      
           
  Wenn Sie denn einmal diß Werk vollendet haben, so hat, wie      
  mich dünkt, die Philosophie eine ganz andere Gestalt zu erwarten.      
  Sie werden uns Beweis und Gegenbeweis über manche Sätze geben;      
  sie werden bauen, und niederreissen, was Sie gebaut haben, um zu      
  beweisen, daß man bisher nicht den Weg, der der natürlichste war,      
  gewählt hat.      
           
  Mich dünkt, das Resultat von allem, wird die mir immer mehr      
  sich darstellende Grundwahrheit seyn, daß für die ganze Menschenclasse      
  etwas wahr seyn kann, was für niedere oder höhere nicht ist.      
  Die Eigenschaften der Dinge haben immer Wahrheit, aber man muß      
  nur das Verhältniß betrachten, in welchem sie stehen.      
           
  Ich habe Gelegenheit gehabt, diß auf verschiedene Sätze schon      
  anzuwenden, und damit ewige Zweifelsucht, oder Wanken zwischen      
  Grund und Gegengrund vermieden.      
           
           
  Es sollte mir sehr angenehm seyn, wenn Sie ihr gethanes Versprechen,      
  mir von Zeit zu Zeit von ihren Arbeiten etwas mitzutheilen,      
  erfüllen würden. Mein hiesiges Amt fordert von mir auf      
  dergleichen Arbeiten, wie ihre Critik der reinen Vernunft recht aufmerksam      
  zu seyn.      
           
  Die Periodische Schrift, von welcher ich mit Ihnen sprach soll      
  nun mit dem Anfang des künftigen Iahres ihren Anfang nehmen;      
  und dem zu folge, was ich schon habe, und was ich noch, besonders      
  von ihnen hoffe, soll diese Schrift wichtig genug werden.      
           
  Noch leg' ich Ihnen hier eine Nachricht bey, welche Ihnen aus      
  dem Merkur und anderen Zeitungen schon bekannt seyn muß, von      
  dem Wurzellexiko meines Freundes des HE: Pf. Fuldas. Diß Werk verdient      
  Unterstützung und Empfehlung. Ich ersuche Sie, es in Königsberg      
  zu empfehlen, wenn Sie Gelegenheit haben, und mir die Zahl      
  der Subscribenten alsdann zuzusenden. Ich wünsche nichts mehr,      
  als Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, wie viel ich Ihnen zu danken      
  hatte, ehe Sie mich und ich Sie persönlich kannte.      
           
  Mit unserm akademischen Gymnasium geht es recht sehr gut.      
  Der Herzog hat das Versprechen gethan, zum Vortheil der hiesigen      
  Akademie, eine gewisse ansehnliche Summe Gelds zu Preisaufgaben      
  auszusetzen. Kürzlich hat er auch die Germershausische Bibliothek in      
  Berlin für 2000 Dukaten gekauft.      
           
  Herr Prof. Beitler, der als Prof. der Mathematik hieher gekommen      
  ist, wird nächstens auf des Herzogs Kosten mit einer mathematischen      
  Untersuchung auftretten, welche ihm eine ansehnliche Stelle      
  unter den Mathematikern geben wird.      
           
  Mehr Nachrichten werd' ich Ihnen geben koennen, wenn nun      
  alles hier in Ordnung gebracht seyn wird. Wir sind uns nun, wie      
  mich dünkt, die nächsten Nachbarn, da ich in einer grossen Entfernung      
  sonst keine Seele kenne; und meine Verweisung oft genug      
  fühle. Lassen Sie michs oft erfahren, daß wir uns nahe sind. Leben      
  Sie glücklich. Ich bin von ganzem Herzen      
           
    Hartmann.      
    Ihr      
  Mitau, den 4ten        
  Sept. 1774.        
           
           
           
           
     

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