Kant: Briefwechsel, Brief 62, Von Iohann Georg Sulzer.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Georg Sulzer.      
           
  8. Dec. 1770.      
           
  Hochedelgebohrner, Hochgeehrtester Herr.      
           
  Sie haben mich durch Übersendung ihrer inaugural Disputation      
  sehr verpflichtet, und dem Publico machen Sie damit ein      
  wichtiges Geschenk. So viel glaube ich schon mit Gewißheit davon      
  eingesehen zu haben, ob gleich ein Zusammenflus von vielen Geschäften      
  und tägliche Arbeit an meinem izt unter der Preße liegenden Werk      
  über die Schönen Künste, mir noch nicht erlaubt haben, jeden der      
  wichtigen neüen Begriffe, die in beträchtlicher Zahl in ihrem Werke      
  liegen, völlig zu fassen. Ich glaube, daß Sie der Philosophie mit      
  diesen Begriffen einen neüen Schwung geben würden, wenn Sie      
           
  sich die Mühe geben wollten, jeden besonders völlig zuentwickeln und      
  seine Anwendung etwas ausführlich zu zeigen.      
           
  Diese Begriffe scheinen mir nicht nur gründlich, sondern sehr      
  wichtig. Nur in einer Kleinigkeit, habe ich mich nicht in ihre Art,      
  sich die Sachen vorzustellen schiken können. Bisdahin, habe ich      
  Leibnizens Begriffe von Zeit und Raum für richtig gehalten, weil      
  ich die Zeit für etwas anderes, als die Dauer, und den Raum für      
  etwas anderes, als die Ausdähnung gehalten habe. Dauer und Ausdähnung      
  sind schlechterdings einfache Begriffe, die sich nicht erklären      
  lassen, aber meines Erachtens eine wahre Realität haben; Zeit und      
  Raum aber sind zusammengesezte Begriffe, die man sich ohne den      
  Begriff der Ordnung zugleich zu haben, nicht denken kann. Den      
  natürlichen Einflus der Substanzen, habe ich mir schon lang ohngefehr      
  so vorgestellt oder seine Nothwendigkeit gefühlt, wie Sie und über den      
  Unterschied des sensibilis und des Intelligibilis habe ich Begriffe,      
  deren Klarheit sich ziemlich weit treiben läßt, wie ich etwa, wenn ich      
  einmal Zeit dazu haben werde ausführlich zu zeigen mir vorgenommen      
  habe. Aber hierin werden Ew. Hochedelgeb. mir ohne Zweifel zuvorkommen,      
  welches mir sehr lieb seyn wird. Denn ich habe würklich izt      
  wenig Zeit und denn auch, wegen arbeiten von einer ganz andern Natur      
  wenig Disposistion des Geistes, dergleichen abstrakten Materien zu      
  bearbeiten.      
           
  Ich wünschte wol von Ihnen zu erfahren, ob wir Hoffnung      
  haben können ihr Werk über die Metaphysik der Moral bald zu      
  sehen. Dieses Werk ist bey der noch so wankenden Theorie der Moral      
  höchst wichtig. Ich habe auch etwas in dieser Art versucht in dem      
  ich unternommen diese Frage aufzulösen: Worin besteht eigentlich der      
  physische oder psychologische Unterschied der Seele die man tugendhaft      
  nennt, von der, die Lasterhaft ist. Ich habe gesucht die eigentlichen      
  Anlagen zur Tugend und zum Laster in den ersten Äußerungen der      
  Vorstellungen und der Empfindungen zu entdeken, und glaube die      
  Untersuchung umsoweniger ganz vergeblich unternommen zu haben, da      
  sie mich auf ziemlich einfache und leicht zu faßende Begriffe geführt      
  hat, die man ohne Mühe und Umwege auf den Unterricht und die      
  Erziehung anwenden kann. Aber auch diese Arbeit kann ich gegenwärtig      
  nicht ausführen.      
           
  EHochedelgeb. wünsche ich von Herzen zu der Ruhmvollen Lauffbahn,      
           
  die Sie sich selbst eröffnet haben Glük, dabey Gesundheit und Muße      
  sie mit Ehre zu vollenden -      
           
    I G Sulzer      
    Berlin d. 8 Decemb. 1770.      
           
           
           
     

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