Kant: Briefwechsel, Brief 61, Von Iohann Heinrich Lambert.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Heinrich Lambert.      
           
  13. Oct. 1770.      
           
  HochEdelgebohrner Herr!      
           
  Euer HochEdelgeb. Schreiben nebst Dero Abhandlung von der      
  sinnlichen und Gedankenwelt gereichte mir zu nicht geringem Vergnügen,      
  zumal da ich letztere als eine Probe anzusehen habe, wie die      
  Metaphysic und sodann auch die Moral verbessert werden könnte.      
  Ich wünsche sehr daß die euer HochEdelgb. aufgetragene Stelle Denselbe[n]      
  zu fernern solchen Aufsätzen Anlaß geben möge, dafern Sie nicht      
  den Entschluß faßen, sie besonders herauszugeben.      
           
  Euer HochEdelgeb. erinnern mich an die bereits vor 5 Iahren      
  gethane Äußerung von vielleicht künftigen gemeinschaftlichen      
  Ausarbeitungen. Ich schrieb damals eben dieses an Hrn. Holland,      
  und würde es nach und nach an einige andere Gelehrten geschrieben      
  haben, wenn nicht die Meßcatalogi gezeigt hätten, daß die schönen      
           
  Wißenschaften alles übrige verdrengen. Ich glaube indeßen, daß sie      
  vorbeyrauschen, Und daß man auch wieder zu den gründlichern Wißenschaften      
  zurücke kehren wird. Es haben mir hier bereits einige, die      
  auf Universitäten nur Gedichte, Romanen und Litteraturschriften      
  durchlasen, gestanden, daß als sie Geschäfte übernehmen mußten, sie      
  sich in einem ganz neuen Lande befunden und gleichsam von neuem      
  studiren mußten. Solche können nun sehr guten Rath geben, was      
  auf Universitaeten zu thun ist.      
           
  Mein Plan war inzwischen theils selbst kleine Abhandlungen in      
  Vorrath zu schreiben, theils einige Gelehrte von ähnlicher Gedenkensart      
  dazu einzuladen, und dadurch gleichsam eine Privatgesellschaft zu      
  errichten, wo alles was öffentliche Gelehrte Gesellschaften nur allzuleicht      
  verderbt, vermieden würde. Die eigentlichen Mitglieder wären eine      
  kleine Zahl ausgesuchter Philosophen gewesen, die aber in der Physic      
  und Mathematick zugleich hätten müßen bewandert seyn, weil meines      
  Erachtens ein purus putus metaphysicus so beschaffen ist, als wenn      
  es ihm an einem Sinn, wie den Blinden am sehen, fehlt. Dieser      
  Gesellschaft Mitglieder hätten sich ihre Schriften oder wenigstens einen      
  hinlänglichen Begriff davon mitgetheilt, um sich allenfalls nachhelfen      
  zu laßen, wo mehr Augen mehr als eines würden gesehen      
  haben. Im Fall aber jeder bey seiner Meynung würde geblieben      
  seyn, so hätte auch mit behöriger Bescheidenheiten und mit dem      
  Bewußtseyn, daß man sich doch irren könnte, jeder seine Meynung      
  können drucken laßen. Die philosophischen Abhandlungen so wie auch      
  die von der Theorie der Sprachen Und schönen Wißenschaften würden      
  die häufigsten gewesen seyn, physische und mathematische hätten allenfalls      
  auch mitgenommen werden können, besonders, wenn sie näher an      
  das philosophische grenzten.      
           
  Besonders hätte der erste Band vorzüglich sein müssen, und man      
  hätte wegen zu erwartender Beyträge immer die Freyheit behalten,      
  solche allenfalls zurücke zu senden, wenn die Mehrheit der Stimmen dawider      
  gewesen wäre. Die Mitglieder hätten sich in schweren Materien      
  ihre Meynungen fragsweise oder auf solche Art mittheilen können,      
  daß sie zu Einwendungen und Gegenantworten freyen Raum ließen.      
           
  Euer HochEdelgeb. können mir auch noch dermalen melden, wiefern      
  Sie eine solche Gesellschaft als etwas Mögliches ansehen, das allenfalls      
           
  Gelehrten waren. Die Bremische Beyträge, worinn die dermaligen      
  Originaldichter Gellert, Rabener, Klopstock etc. ihre Versuche bekannt      
  machten und sich gleichsam bildeten, können ein zweytes Beyspiel seyn.      
  Das bloß philosophische scheint mehrere Schwürigkeiten zu haben.      
  Es würde aber freylich auf eine gute Wahl der Mitglieder ankommen.      
  Die Schriften müßten von allem heretischen und allzueigensinnigen      
  oder allzuunerheblichen frey bleiben.      
           
  Inzwischen habe ich einige Abhandlungen, die ich zu einer solchen      
  Sammlung hätte wiedmen können, theils in die Acta eruditorum      
  gegeben, theils hier bey der Academie vorgelesen, theils auch zu solchen      
  Abhandlungen gehörigen Gedanken bey andern Veranlassungen bekannt      
  gemacht.      
           
  Ich wende mich aber nun zu Dero vortreflichen Abhandlung, da      
  Euer HochEdelgeb. besonders darüber meine Gedanken zu wißen      
  wünschen. Wenn ich die Sache recht verstanden habe, so ligen dabey      
  einige Sätze zum Grunde, die ich so kurz als möglich hier auszeichnen      
  werde.      
           
  Der erste Hauptsatz ist: daß die Menschliche Erkenntnis, so      
  fern sie theils Erkenntnis ist, theils eine ihr eigene Form hat,      
  sich in der Alten Phaenomenon und Noumenon zerfälle, und nach      
  dieser Eintheilung aus zwo ganz verschiedenen und so zu sagen      
  heterogenen Quellen entspringe, so daß was aus der eine[n] Quelle      
  kömmt niemals aus der andern hergeleitet werden kann. Die von den      
  Sinnen herrührende Erkenntnis ist und bleibt also sinnlich, so wie die      
  vom Verstande herrührende demselben eigen bleibt.      
           
  Bey diesem Satze ist es meines Erachtens fürnehmlich um die      
  Allgemeinheit zu thun, wiefern nemlich diese beyden Erkenntnisarten      
  so durchaus Separirt sind, daß sie nirgends zusammentreffen.      
  Soll dieses a priori bewiesen werden, so muß es aus der Natur      
  der Sinnen und des Verstandes geschehen. Dafern wir aber diese      
  a posteriori erst müßen kennen lernen, so wird die Sache auf die      
  Classification und Vorzählung der Obiecte ankommen.      
           
  Dieses scheint auch der Weg zu seyn, den Euer HochEdelgeb.      
  in dem 3ten Abschnitte genommen. In dieser Absicht scheint es mir      
  ganz richtig zu seyn, daß was an Zeit und Ort gebunden ist,      
  Wahrheiten von ganz anderer Art darbietet, als diejenige sind, die      
           
  als ewig und unveränderlich angesehen werden müßen. Dieses merkte ich      
  Alethiol. § 81. 87. bloß an. Denn der Grund, warum Wahrheiten,      
  so und nicht anders an Zeit und Ort gebunden sind, ist nicht so      
  leicht herauszubringen, so wichtig er an sich auch seyn mag.      
           
  Übrigens war daselbst nur von existirenden Dingen die Rede.      
  Es sind aber die Geometrische und Chronometrischen Wahrheiten nicht      
  zufällig sondern ganz wesentlich an Zeit und Raum gebunden, und      
  sofern die Begriffe von Zeit und Raum ewig sind, gehören die      
  Geometrischen und Chronometrischen Wahrheiten mit unter die ewigen      
  unveränderlichen Wahrheiten.      
           
  Nun fragen Euer Hochedelgeb. ob diese Wahrheiten sinnlich sind?      
  Ich kann es ganz wohl zugeben. Es scheint, daß die Schwürigkeit,      
  so in den Begriffen von Zeit und Ort ligt, ohne Rücksicht auf diese      
  Frage vorgetragen werden könne. Die vier ersten Sätze § 14 scheinen      
  mir ganz richtig, und besonders ist es sehr gut, daß Euer HochEdelgeb.      
  im 4ten auf den wahren Begriff der Continuitaet dringen, der      
  in der Metaphysic so viel als ganz verlohren gegangen zu seyn schien,      
  weil man ihn bey einem Complexus Entium simplicium durchaus      
  anbringen wollte, und ihn daher verändern mußte. Die Schwürigkeit      
  ligt nun eigentlich in dem 5ten Satze. Euer HochEdelgeb. geben zwar      
  den Satz: Tempus est subiectiua conditio etc . nicht als eine Definition      
  an. Er soll aber doch etwas der Zeit eigenes und wesentliches anzeigen.      
  Die Zeit ist unstreitig eine Conditio sine qua non , und so      
  gehört sie mit zu der Vorstellung sinnlicher und jeder Dinge die an      
  Zeit und Ort gebunden sind. Sie ist auch besonders den Menschen      
  zu dieser Vorstellung nöthig. Sie ist auch ein Intuitus purus , keine      
  Substanz, kein bloßes Verhältnis. Sie differiert von der Dauer wie      
  der Ort von dem Raume. Sie ist eine besondere Bestimmung der      
  Dauer. Sie ist auch kein accidens, das mit der Substanz wegfällt etc.      
  Diese Sätze mögen alle angehen. Sie führen auf keine Definition,      
  und die beste Definition wird wohl immer die seyn, daß Zeit Zeit ist,      
  dafern man sie nicht, und zwar auf eine sehr mißliche Art, durch ihre      
  Verhältnisse zu den Dingen die in der Zeit sind, definiren, und damit      
  einen logischen Circul mit unterlaufen lassen will. Die Zeit ist ein      
  bestimterer Begriff als die Dauer, und daher gibt sie auch mehr      
  verneinende Sätze. Z. E. was in der Zeit ist, dauert. Aber nicht      
  umgekehrt, so fern man zum in der Zeit seyn einen Anfang und      
           
  Ende fordert. Die Ewigkeit ist nicht in der Zeit, weil ihre Dauer      
  absolut ist. Eine Substanz, die eine absolute Dauer hat, ist ebenfalls      
  nicht in der Zeit. Alles was existirt dauert, aber nicht alles ist in      
  der Zeit. etc. Bey einem so klaren Begriff wie die Zeit ist, fehlt es      
  an Sätzen nicht. Es scheint nur daran zu ligen, daß man Zeit und      
  Dauer nicht definiren sondern schlechthin nur denken muß. Alle Veränderungen      
  sind an die Zeit gebunden und laßen sich ohne Zeit nicht      
  gedenken. Sind die Veränderungen real so ist die Zeit real,      
  was sie auch immer seyn mag. Ist die Zeit nicht real so ist auch      
  keine Veränderung real. Es däucht mich aber doch, daß auch      
  selbst ein Idealiste wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen,      
  wie Anfangen und Aufhören derselben zugeben muß, das wirklich vorgeht      
  und existirt. Und damit kann die Zeit nicht als etwas nicht      
  reales angesehen werden. Sie ist keine Substanz etc. aber eine      
  endliche Bestimmung der Dauer, und mit der Dauer hat sie etwas      
  reales, worinn dieses auch immer bestehen mag. Kann es mit keinem      
  von andern Dingen hergenommenen Namen ohne Gefahr von Mißverstand      
  benennt werden, so muß es entweder ein neugemachtes      
  Primitivum zum Namen bekommen, oder unbenennt bleiben. Das reale      
  der Zeit und des Raumes scheint so was einfaches und in Absicht      
  auf alles übrige heretogenes zu haben, daß man es nur denken aber      
  nicht definiren kann. Die Dauer scheint von der Existenz unzertrennlich      
  zu seyn. Was existirt dauert entweder absolut oder eine Zeit lang,      
  und hinwiderum was dauert, muß so lang es dauert nothwendig vorhanden      
  seyn. Existirende Dinge von nicht absoluter Dauer sind nach      
  der Zeit geordnet, sofern sie anfangen, fortdauern, sich ändern, aufhören      
  etc. Da ich den Veränderungen die Realität nicht absprechen      
  kann, bevor ich nicht eines andern belehrt werde, so kann      
  ich noch dermalen auch nicht sagen, daß die Zeit und so auch der      
  Raum nur ein Hülfsmittel zum Behuf der menschlichen Vorstellungen      
  sey. Was übrigens die in Ansehung der Zeit in den Sprachen übliche      
  Redensarten betrift, so ist es immer gut, die Vieldeutigkeiten anzumerken,      
  die das Wort Zeit darinn hat. Z. E.      
           
  Eine lange Zeit ist Intervallum temporis vel duorum momentorum      
  und bedeutet eine bestimmte Dauer.      
           
  Und diese Zeit, zu dieser Zeit etc. ist entweder ein bestimter      
           
  größere etwas unbestimmte Dauer, oder Zeitpunct etc.      
  Euer HochEdelgeb. werden leicht vermuthen, wie ich nun in Ansehung      
  des Orts und des Raumes denke. Ich setze die Analogie      
  Zeit: Dauer - Ort: Raum      
  die Vieldeutigkeiten der Wörter bey Seite gesetzt, nach aller Schärfe,      
  und ändere sie nur darinn, daß der Raum 3 die Dauer 1 Dimension,      
  und überdiß jeder dieser Begriffe etwas eigenes hat. Der Raum      
  hat wie die Dauer etwas Absolutes und auch endliche Bestimmungen.      
  Der Raum hat wie die Dauer eine ihm eigene Realität, die durch von      
  andern Dingen hergenommene Wörter ohne Gefahr des Mißverstandes      
  nicht anzugeben noch zu definiren ist. Sie ist etwas einfaches, und      
  muß gedacht werden. Die ganze Gedankenwelt gehört nicht zum      
  Raum, sie hat aber ein Simulachrum des Raumes, welches sich vom      
  physischen Raume leicht unterscheidet, vielleicht noch eine nähere als      
  nur eine metaphorische Ähnlichkeit mit derselben hat.      
           
  Die theologische Schwürigkeiten, die besonders seit Leibnizens      
  und Clarkens Zeiten die Lehre vom Raum mit Dornen angefüllt      
  haben, haben mich bißher in Ansehung dieser Sache noch nicht irre      
  gemacht. Der ganze Erfolg bey mir ist, daß ich verschiedenes lieber      
  unbestimmt laße, was nicht klar gemacht werden kann. Übrigens wollte      
  ich in der Ontologie nicht nach den folgenden Theilen der Metaphysic      
  hinschielen. Ich laße es ganz wohl geschehen, wenn man Zeit und      
  Raum als bloße Bilder und Erscheinungen ansieht. Denn außer da      
  beständiger Schein für uns Wahrheit ist, wobey das zum Grunde      
  ligende entweder gar nie oder nur künftig entdeckt wird; so ist es in      
  der Ontologie nützlich, auch die vom Schein geborgte Begriffe vorzunehmen,      
  weil ihre Theorie zuletzt doch wider bey den      
  Phaenomenis angewandt werden muß. Denn so fängt auch der Astronome      
  beym Phaenomeno an, leitet die Theorie des Weltbaues daraus      
  her, und wendet sie in seinen Ephemeriden wieder auf die Phaenomena      
  und deren Vorherverkündigung an. In der metaphysic, wo die      
  Schwürigkeit vom Schein so viel Wesens macht, wird die Methode      
  des Astronommen wohl die sicherste seyn. Der Metaphysiker kann alles      
  als Schein annehmen, den leeren vom reellen absöndern, aus dem      
  reellen auf das wahre schließen. Und fährt er damit gut, so wird er      
           
  wegen der Principien wenige Widersprüche und überhaupt Beyfall      
  finden. Nur scheint es, daß hiezu Zeit und Gedult nöthig sey.      
           
  In Ansehung des 5ten Abschnittes werde ich dermalen kurz seyn.      
  Ich sehe es als etwas sehr wichtiges an, wenn Euer HochEdelgeb.      
  Mittel finden können, in den an Zeit und Ort gebundenen Wahrheiten      
  tiefer auf ihren Grund und Ursprung zu sehen. Sofern aber      
  dieser Abschnitt auf die Methode geht, so fern habe ich das vorhin      
  von der Zeit gesagte, auch hier zu sagen. Denn sind die Veränderungen      
  und damit auch die Zeit und Dauer etwas reelles,      
  so scheint zu folgen, daß die im 5ten Abschnitt vorgeschlagene      
  Absönderung andere und theils näher bestimmte Absichten      
  haben müße, und diesen gemäß dürfte sodann auch die Classification      
  anders zu treffen seyn. Dieses gedenke ich bei dem § 25. 26. In      
  Ansehung des § 27. ist das Quicquid est, est alicubi et aliquando ,      
  theils irrig theils vieldeutig, wenn es soviel sagen will als in tempore      
  et in loco. Was absolute dauert ist nicht in tempore, und die Gedankenwelt      
  ist nur in loco des vorhin erwähnten Simulachri des Raumes      
  oder in loco des Gedankenraums.      
           
  Was Euer HochEdelgb. § 28, so wie in der Anmerkung S. 2. 3.      
  vom Mathematischen Unendlichen sagen, daß es in der Metaphysic      
  durch Definitionen verdorben und ein anderes dafür eingeführt worden,      
  hat meinen völligen Beyfall. In Ansehung des § 28. erwähnten      
  Simul esse et non esse , denke ich, daß auch in der Gedankenwelt ein      
  Simulachrum temporis vorkomme, und das Simul daher entlehnt sey,      
  wenn es bey Beweisen absoluter Wahrheiten vorkömmt, die nicht an      
  Zeit und Ort gebunden sind. Ich dächte, das Simulacrum spatii et      
  temporis in der Gedankenwelt, könnte bey Dero vorhabenden Theorie      
  ganz wohl mit in Betrachtung kommen. Es ist eine Nachbildung des      
  wirklichen Raums und der wirklichen Zeit, und läßt sich davon ganz      
  wohl unterscheiden. Wir haben an der Symbolischen Kenntnis noch      
  ein Mittelding zwischen dem empfinden und wirklichen reinen Denken.      
  Wenn wir bey Bezeichnung des einfachen und der Zusammensetzungsart      
  richtig verfahren, so erhalten wir dadurch sichere Regeln, Zeichen      
  von so sehr zusammengesetzten Dingen heraus zu bringen, daß wir sie      
  nicht mehr überdenken können, und doch versichert sind, daß die      
  Bezeichnung Wahrheit vorstellt. Noch hat sich niemand alle Glieder      
  einer unendlichen Reyhe zugleich deutlich vorgestellt und niemand wird      
           
  es künftig thun. Daß wir aber mit solchen Reyhen rechnen, die Summ      
  davon angeben können etc. das geschieht vermög der Gesetze der      
  Symbolischen Erkenntnis. Wir reichen damit weit über die Grenzen      
  unseres wirklichen Denkens hinaus. Das Zeichen √-1 stellt ein      
  nicht gedenkbares Unding vor, und doch kann es Lehrsätze zu finden      
  sehr gut gebraucht werden. Was man gewöhnlich als Proben des      
  reinen Verstandes ansieht, wird meistens nur als Proben der symbolischen      
  Erkenntnis anzusehen seyn. Dieses sagte ich § 122. Phaenomenol.      
  bey Anlaß der Frage § 119. Und ich habe nichts dawider, daß Euer      
  HochEdelgeb. § 10 die Anmerkung ganz allgemein machen.      
           
  Iedoch ich werde hier abbrechen, und das Gesagte Euer HochEdelgeb.      
  beliebigem Gebrauche überlaßen. Ich bitte indeßen, die in      
  diesem Schreiben unterstrichene Sätze genau zu prüfen, und wenn Sie      
  dazu Zeit nehmen wollen, ohne auf das Porto zu sehen, mir Dero      
  Urtheil zu melden. Bißher habe ich der Zeit und dem Raume noch      
  nie alle Realitaet absprechen noch sie zu bloßen Bildern und Schein      
  machen können. Ich denke daß jede Veränderungen auch bloßer Schein      
  seyn müßten. Dieses wäre einem meiner Hauptgrundsätze (§ 54      
  Phaenom.) zuwider. Sind also Veränderungen real, so eigne ich      
  auch der Zeit eine Realitaet zu. Veränderungen folgen auf einander,      
  fangen an, fahren fort, hören auf etc. lauter von der Zeit hergenommene      
  Ausdrücke. Können Euer HochEdelgeb. mich hierinn eines andern      
  belehren, so glaube ich nicht viel zu verliehren. Zeit und Raum      
  werden reeller Schein seyn, wobey etwas zum Grunde ligt, das sich so      
  genau und beständig nach dem Schein richtet, als genau und beständig      
  die geometrischen Wahrheiten immer seyn mögen. Die Sprache des      
  Scheins wird also eben so genau statt der unbekannten wahren Sprache      
  dienen. Ich muß aber doch sagen, daß ein so schlechthin nie triegender      
  Schein wohl mehr als nur Schein seyn dürfte.      
           
  Ich vermuthe, daß wohl auch Haude und Spenersche Zeitungen      
  von hier nach Königsberg kommen werden. Ich werde demnach hier      
  nur noch kurz berühren, daß ich in No. 116 vom 27 Sept. a. c. dem      
  Publico zu sagen veranlaßt worden bin, wie sich bereits jemand gefunden,      
  der die in meinen Zusätzen zu den log. und trigon. Tabellen      
  befindliche Tafel der Theiler der Zahlen biß auf 204 000 und allenfalls      
  noch weiter ausdehnen wird, und daß ein anderer die log. hyperbol.      
  biß auf viele Decimalstellen zu berechnen vorgenommen. Dieses notificirte      
           
  ich, damit diese Arbeit nicht etwann doppelt sondern die      
  Berechnung anderer noch ganz rückständiger Tabellen vorgenommen      
  werden. Es gibt hin und wider Liebhaber der Mathematick, die      
  gern rechnen. Und ich habe Ursache zu hoffen, daß die Einladung,      
  die auch in der allg. D. Bibl. in den Gottingischen Anzeigen und in      
  den Leipziger gel. Zeitungen stehen wird, nicht ohne Frucht seyn      
  werde. Sollten Euer HochEdelgeb. in dortigen Gegenden jemand      
  finden, der zu solchen Berechnungen Lust hätte, so würde es mir sehr      
  angenehm seyn. Ein Verleger bezahlt zwar die Zeit und Mühe nicht      
  nach Verdienst, und ich werde für den Bogen schwerlich mehr als      
  einen Ducaten herausbringen. Was aber auch immer erfolgt, davon      
  verlange ich nichts, sondern jeder wird seinen Antheil allenfalls vom      
  Verleger selbst beziehen können. Wer sich übrigens zu Berechnung      
  der noch rückständigen Tabellen zuerst angibt, wird, wie billig, wenn      
  er Proben seiner Fähigkeit vorzeigt, die Auswahl haben. Und so      
  habe ich bereits jemanden, der sich unter der Hand angebothen und      
  entweder selbst rechnen oder rechnen lassen wird, die Wahl gelassen.      
  Vielleicht steigt die Tafel der Theiler der Zahlen bis auf 1 000 000,      
  und dürfte allein zween Octavbände ausmachen.      
           
  Ich habe die Ehre mit wahrer Hochachtung zu seyn      
           
    Euer Wohlgeb.      
  Berlin den 13 Oct. 1770. Ergebenster Diener      
    I H Lambert      
           
           
           
     

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