Kant: Briefwechsel, Brief 314, Von Christian Gottlieb Selle. |
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Von Christian Gottlieb Selle. | |||||||
29. Dec. 1787. | |||||||
Wohlgeborner, Hochgelahrter Herr | |||||||
Höchstzuverehrender Herr Profeßor, | |||||||
Es gehört zu den mancherlei Unterlaßungs=Sünden, deren ich mich | |||||||
schuldig weiß, daß ich die öffteren Gelegenheiten, die sich mir ehemals, | |||||||
Ihre Bekanntschafft zu machen, darboten, so ungenutzt laßen. Bescheidener | |||||||
Stoltz war es, der mich fürchten ließ, entweder Ihnen beschwerlich | |||||||
zu fallen, oder doch nicht derjenigen Aufmercksamkeit von | |||||||
Ihnen gewürdigt zu werden, deren ich mich werth hielt. Und so blieb | |||||||
es dabei. Aber vom ersten Anfange meiner Bekanntschafft mit der | |||||||
Philosophie war ich Ihr Verehrer u. bin es noch. Desto sonderbarer | |||||||
werden Sie es finden, daß ich gerade jetzt mich an Sie wende, da ich | |||||||
öffentlich gegen Sie aufzutreten scheine. Aber ich habe eine zu große | |||||||
Meinung von Ihnen, als daß ich Ihre Gesinnungen mit denjenigen | |||||||
gewöhnlicher und gemeiner Menschen verwechseln solte. Ich bin gewohnt, | |||||||
freimüthig nach meiner Ueberzeugung zu reden. Das habe ich | |||||||
in beifolgender Schrifft auch in Rücksicht auf Ihre Philosophie gethan. | |||||||
Aber unendlich leid würde es mir thun, wenn Sie diesen Wiederspruch | |||||||
nicht ganz für das nähmen, was er ist, sondern mich zur Klaße jener | |||||||
Menschen herabwürdigten, die gern an berühmten Männern zu Rittern | |||||||
werden möchten. | |||||||
Seit ich anfing, meine gesamleten Erfahrungs=Kenntniße zu vergleichen, | |||||||
zu sondern, zu verallgemeinern, wurde ich von der Wahrheit | |||||||
überzeugt, daß Erfahrung die einzige Quelle unsers Wißens sei u. | |||||||
daß der leere u. unbefriedigende Inhalt unserer philosophischen Systeme | |||||||
hauptsächlich daher rühre, weil man diese Quelle vernachläßigte. Ich | |||||||
unterfing mich daher eine Metaphysick (Urbegriffe u.s.f.) zu schreiben, | |||||||
die nur aus verallgemeinerten Erfahrungsbegriffen bestand; Wenige | |||||||
waren damit zufrieden, weil sie ans Demonstriren a priori gewohnt | |||||||
waren. Doch tröstete ich mich damit, daß ich es der Zeit überließ, | |||||||
die Wahrheit bekannter zu machen. Und nun erschien Ihre Kritick, | |||||||
die freilich im Grunde gerade die obige Wahrheit bestätigt, aber durch | |||||||
ihren Gang u. Anstrich ganz etwas anders vermuthen läßt. Ich | |||||||
war außer mir, von Ihnen zu hören, daß es eine von der Erfahrung | |||||||
unabhängige Philosophie gebe. Sie, der erste Philosoph Deutschlands, | |||||||
geben meiner Meinung nach, der Sache der Erfahrung, die ohnehin | |||||||
noch gar nicht im Besitz ihrer Rechte war, einen tödtlichen Stoß, so | |||||||
wie mir das Geschwätze mit identischen Begriffen dadurch wieder neuen | |||||||
Spielraum zu gewinnen schien. Und das sind die Triebfedern die | |||||||
mich in Bewegung gesetzt haben. | |||||||
Daß Sie mich mit Verachtung u. Stillschweigen zurückweisen | |||||||
solten, erwarte ich von Ihnen nicht. Ich suche Wahrheit u. schäme | |||||||
mich eines gehabten Irrthums nicht. Mir scheint für jetzt das Gegentheil | |||||||
meiner Gedancken unmöglich. Aber ich folgere daraus nicht, da | |||||||
das Recht auch gewiß auf meiner Seite sei, weil ich sonst meinen | |||||||
eigenen Grundsätzen ungetreu seyn würde. Wenn wir beide ruhig u. | |||||||
unbefangen unsern Weg fortgehen, so begegnen wir uns vielleicht eher, | |||||||
als wir es vermuthen, da wir uns schwerlich mit Fleiß zu vermeiden | |||||||
suchen werden. Die Zeit ist da, den Grundriß der Philosophie zu | |||||||
fixiren, es wäre Schade, wenn sie diesmal wieder nicht genützt würde. | |||||||
Ich wiederhole Ihnen meine Ergebenheit und Hochachtung als | |||||||
Ihr | |||||||
Verehrer u. Freund | |||||||
Selle | |||||||
Berlin, den 29 xbr. 87. | |||||||
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