Kant: Briefwechsel, Brief 266, An Iohann Bering. |
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An Iohann Bering. | |||||||
7. April 1786. | |||||||
Ew: Wohlg. tiefgedachte und hell ausgeführte Dissertation ist | |||||||
mir, nebst beyden gütigen an mich abgelassenen Briefen, ein sehr angenehmes | |||||||
Geschenk gewesen. Den erstern zu beantworten, verzog es | |||||||
sich so lange, bis, da ich endlich fand, daß keine der Nachschriften | |||||||
meiner Vorlesungen Ihnen ein Genüge thun könnte, die Zeit zur Beantwortung | |||||||
mir zu spät schien, und die letztere gütige Zuschrift empfieng | |||||||
ich in einer Verwickelung unter so mancherlei Geschäften, daß ich wegen | |||||||
meiner Verzögerung Verzeihung hoffe. | |||||||
Es ist Schade, daß die Dissertation, die so viel Gründliches enthält, | |||||||
und zugleich so stark ist, nicht, wie sie es wohl verdiente, auf die | |||||||
Messe gekommen ist, um bekannter zu werden. Herr Tiedemann hat | |||||||
in seinen vermeintlichen Widerlegungen so wenig Begrif von der vorliegenden | |||||||
Frage, so wenig Einsicht in die Principien, worauf ihre | |||||||
Entscheidung ankömmt, und, wenn ich sagen soll, so wenig Geschick zu | |||||||
reinen philosophischen Untersuchungen gewiesen, und Ihre Ueberlegenheit | |||||||
in allen diesen Stücken zeigt sich in Ihrer Schrift so entschieden, | |||||||
daß ich glaube, er werde von fernern Versuchen ähnlicher Art abstehen. | |||||||
Dagegen hoffe ich mit Vergnügen und Vertrauen, dieses Beyspiel, | |||||||
welches E. W. gegeben haben, werde nach und nach die Nachforschung | |||||||
über diesen Punct mehr rege machen, und so eine neue | |||||||
Schöpfung einer zwar schon vor Alters so betitelten, in der That aber | |||||||
misverstandenen, in neuern Zeiten gar unter die Bank gerathenen | |||||||
Wissenschaft nach und nach zu Stande bringen. | |||||||
Sie beliebten mich zu fragen, wie bald wohl meine Metaphysik | |||||||
herauskommen möchte. Ietzt getraue ich mich nicht vor zwey Iahren | |||||||
ihre Erscheinung zu versprechen. Indessen wird doch, wenn ich bey | |||||||
Gesundheit bleibe, etwas, was eine Zeitlang ihre Stelle vertreten kann, | |||||||
nämlich eine neue sehr umgearbeitete Auflage meiner Critik, in | |||||||
Kurzem (vielleicht nach einem halben Iahre) zum Vorschein kommen, | |||||||
da mein Verleger, welcher über mein Vermuthen geschwinde seinen | |||||||
ganzen Verlag dieses Buchs schon verkauft hat, darum dringend anhält. | |||||||
Ich werde auf alle die Misdeutungen, oder auch Unverständlichkeiten, | |||||||
die mir binnen der Zeit des bisherigen Umlaufs dieses Werks | |||||||
bekannt geworden, Rücksicht nehmen. Dabei wird Vieles abgekürzt, | |||||||
manches Neue dagegen, welches zur besseren Aufklärung dient, hinzugefügt | |||||||
werden. Aenderungen im Wesentlichen werde ich nicht zu | |||||||
machen haben, weil ich die Sachen lange genug durchgedacht hatte, ehe | |||||||
ich sie zu Papier brachte, auch seitdem alle Sätze, die zum System gehören, | |||||||
wiederholentlich gesichtet und geprüft, jederzeit aber für sich und | |||||||
in ihrer Beziehung zum Ganzen bewährt gefunden habe. Weil nun, | |||||||
wenn mir diese Arbeit, wie ich sie mir jetzt entwerfe, gelingt, es beinahe | |||||||
in jedes Einsehenden Vermögen stehen wird, ein System der | |||||||
Metaphysik darnach zu entwerfen, so werde ich darum die eigene Bearbeitung | |||||||
der letzteren etwas weiter hinaussetzen, um für das System | |||||||
der practischen Weltweisheit Zeit zu gewinnen, welches mit dem ersteren | |||||||
vergeschwistert ist und einer ähnlichen Bearbeitung bedarf, wiewohl | |||||||
die Schwierigkeit bey demselben nicht so groß ist. | |||||||
Fahren Sie fort, theuerster Mann, Ihre jugendliche Kraft und | |||||||
das schöne Talent, das Ihnen anvertraut ist, auf die Berichtigung der | |||||||
Ansprüche der ihre Grenzen so gerne überschreitenden speculativen Vernunft | |||||||
anzuwenden, hiemit aber die immer sich regende Schwärmerey, | |||||||
die jene Ansprüche zu ihrem Vortheil nutzt, niederzudrücken, ohne doch | |||||||
dem seelenerhebenden, theoretischen sowohl als praktischen, Gebrauche | |||||||
der Vernunft Abbruch zu thun und dem faulen Scepticism ein Polster | |||||||
unterzulegen. Sein Vermögen und doch zugleich die Grenze seines | |||||||
Gebrauchs bestimmt erkennen, macht sicher, wacker und entschlossen, zu | |||||||
allem, was gut und nützlich ist; dagegen durch süße Hoffnungen unaufhörlich | |||||||
geteuscht, und durch immer erneuerte und eben so oft fehlschlagende | |||||||
Versuche in dem, was über unsere Kräfte ist, hingehalten | |||||||
zu werden, Geringschätzung der Vernunft und hiemit Faulheit oder | |||||||
Schwärmerey hervorbringt. | |||||||
Ich empfehle mich Ihrem Wohlwollen und bin u.s.w. | |||||||
Kant. | |||||||
Königsberg den 7ten April 1786. | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 440 ] [ Brief 265 ] [ Brief 267 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |