Kant: Briefwechsel, Brief 256, An Christian Gottfried Schütz. |
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An Christian Gottfried Schütz. | |||||||
Ende Nov. 1785. | |||||||
Obgleich das Werk des würdigen M.[endelssohn] in der Hauptsache | |||||||
für ein Meisterstück der Täuschung unsrer Vernunft zu halten ist, wenn | |||||||
sie die subjectiven Bedingungen ihrer Bestimmung der Objecte überhaupt, | |||||||
für Bedingungen der Möglichkeit dieser Objecte selbst hält, eine Täuschung, | |||||||
die in ihrer wahren Beschaffenheit darzustellen, und den Verstand | |||||||
davon gründlich zu befreyen gewiß keine leichte Arbeit ist; so | |||||||
wird doch dieses treffliche Werk außerdem, was in der Vorerkenntniß | |||||||
über Wahrheit, Schein und Irrthum, Scharfsinniges, Neues, und | |||||||
musterhaft Deutliches gesagt ist, und was in jedem philosophischen Vortrage | |||||||
sehr gut angewandt werden kann, durch seine zweyte Abtheilung, | |||||||
in der Kritik der menschlichen Vernunft von wesentlichem Nutzen seyn. | |||||||
Denn da der Vf. in der Darstellung der subjectiven Bedingungen des | |||||||
Gebrauchs unserer Vernunft endlich dahin gelangt, die Schlußfolge zu | |||||||
ziehen, daß nichts denkbar sey, ohne sofern es von irgend einem | |||||||
Wesen wirklich gedacht wird, und überhaupt ohne Begriff kein | |||||||
Gegenstand wirklich vorhanden sey (S. 303) und daraus folgert, daß ein | |||||||
unendlicher und zugleich thätiger Verstand wirklich seyn müsse, weil nur | |||||||
in Beziehung auf ihre Möglichkeit oder Wirklichkeit Prädicate der | |||||||
Dinge von Bedeutung seyn können; da auch in der That in der menschlichen | |||||||
Vernunft und ihren Naturanlagen ein wesentliches Bedürfniß | |||||||
liegt, gleichsam mit diesem Schlußsteine ihrem freyschwebenden Gewölbe | |||||||
Haltung zu geben, so giebt diese äußerst scharfsinnige Verfolgung | |||||||
der Kette unsrer Begriffe, in der Erweiterung derselben bis zur Umfassung | |||||||
des Ganzen die herrlichste Veranlassung und zugleich Auffoderung | |||||||
zur vollständigen Kritik unsers reinen Vernunftvermögens, | |||||||
und zur Unterscheidung der blos subjectiven Bedingungen ihres Gebrauchs | |||||||
von denen, dadurch etwas vom Objecte gültiges angezeigt | |||||||
wird. Dadurch muß denn reine Philosophie nothwendig gewinnen, | |||||||
gesetzt auch, daß es sich nach vollendeter Prüfung ergäbe, daß hier | |||||||
Illusion sich einmische, und etwas scheine Eroberung im Felde sehr | |||||||
entlegener Objecte zu seyn, was doch nur (ob zwar sehr nützliche) | |||||||
Leitung des Subjects unter uns sehr nahe umgebenden Gegenständen | |||||||
seyn möchte. Man kann dieses letzte Vermächtniß einer dogmatisirenden | |||||||
Metaphysik zugleich als das vollkommenste Product derselben, so wohl | |||||||
in Ansehung des kettenförmigen Zusammenhangs, als auch der ausnehmenden | |||||||
Deutlichkeit in Darstellung derselben ansehen, und als ein | |||||||
nie von seinem Werthe verlierendes Denkmal der Scharfsinnigkeit eines | |||||||
Mannes, der die ganze Stärke einer Erkenntnißart, der er sich annimmt, | |||||||
kennt, und sie in seiner Gewalt hat, an welchem also eine | |||||||
Kritik der Vernunft, die den glücklichen Fortgang eines solchen Verfahrens | |||||||
bezweifelt, ein bleibendes Beyspiel findet ihre Grundsätze auf | |||||||
die Probe zu stellen, um sie darnach entweder zu bestätigen, oder zu | |||||||
verwerfen. | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 428 ] [ Brief 255 ] [ Brief 257 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |