Kant: Briefwechsel, Brief 255, Von Marcus Herz. |
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Von Marcus Herz. | |||||||
25. Nov. 1785. | |||||||
Lieber, theurer, verehrungswürdiger Lehrer! Daß Ihnen der | |||||||
Himmel noch so viele vergnügte und glückliche Iahre hiniden genießen | |||||||
lasse, als Ihr lieber Brief mir vergnügte und glückliche Stunden gemacht. | |||||||
Ich habe schon lange keinen von Ihnen gehabt, und mein | |||||||
Herz hängt noch so fest an Ihnen, lechzt noch so oft nach Unterredungen | |||||||
mit Ihnen, daß, ohne die Gegenwart Ihres Bildes in meiner Stube, | |||||||
das ich bey jedem Denken und Forschen nach Wahrheit anstaune, und | |||||||
das mich für jede gedachte und erforschte anzulächlen scheint, ich es | |||||||
schwerlich fünfzehn Iahre ausgehalten haben würde, ohne einen Lauf | |||||||
nach Königsberg zu machen, um noch einmal in meinem Leben wenigstens | |||||||
vier u. zwanzig Stunden vor dem Munde meines würdigen | |||||||
Lehrers und Freundes zu zubringen. Ha! das waren Zeiten, da ich | |||||||
so ganz in der lieben ruhigen Philosophie und ihrem Kant lebte und | |||||||
webte, da ich mit jedem Tage mich vollkommener und gebildeter als | |||||||
den Tag vorher fühlte, da ohne Nahrungsgewerbe frey von Sorgen, | |||||||
es werde mir meines Lehrers Beyfall und Aufmunterung | |||||||
gewährt, mein einziger Morgen und Abendwunsch war, und der mir | |||||||
so oft gewährt wurde; das waren! - Aber die Zeiten sind vorüber, | |||||||
nun ist alles anders. Das praktische medicinische Leben ist das unruhigste | |||||||
und beschwerlichste für Geist und Körper. Die Kunst ist | |||||||
noch lange nicht dahin, daß die reine Vernunft sich daran laben könnte. | |||||||
Was diese noch so sorgfältig glättet und ründet erscheint in der Anwendung | |||||||
nur zu oft voller Ecken und Rauhigkeiten. Der empirische | |||||||
Arzt, dessen Herz nie an der Vernunft hängt ist in sich fast der glücklichste. | |||||||
Die Urtheile des Haufens gründen sich auf Erfolge, die doch | |||||||
nicht immer in der Macht des Künstlers stehen; sein Beyfall und | |||||||
Mißfallen fließt größtentheils aus den unreinsten Quellen, aus Neid | |||||||
und Eifersucht, aus Aberglauben und Gemüthsschwäche, aus vorgefaßter | |||||||
Gunst und Mißgunst, aus Vorurtheil für oder wider Gesichtszüge, | |||||||
Stimme, Gebehrden, Kleidung, Ansehen u. s. w. Kurz, der ganze | |||||||
Werth und Unwerth den er dem Künstler beylegt beruhet auf außerwesentliche | |||||||
zufällige Dinge, über die Studium und Vernunft nichts | |||||||
vermögen. Und das beständige Durcharbeiten durch diese Schwirigkeiten | |||||||
ist allerdings sehr beschwerlich und macht den empfindsamen | |||||||
Menschen mißmüthig und übellaunisch. Doch genug hiervon! | |||||||
Bey der Besorgung der empirischen Mittel für Ihren kranken | |||||||
Freund hat sich ein ganz besonderer Zufall ereignet. Ich ging gleich | |||||||
den Tag nach dem Empfang Ihres Briefes zu dem Afterarzt hin. | |||||||
Ich hatte ihn vor einem halben Iahr an einem Fieber in der Kur | |||||||
u. bin seitdem ein Art Vertrauter von ihm geworden. Ich las ihm | |||||||
den Brief vor u. er versprach mir binen einigen Tagen seine Seife | |||||||
u. seinen Spiritus nebst schriftliche Gebrauchsregeln zu schicken. Ich | |||||||
schickte zu ihm, u. es war noch nichts fertig, und endlich gestern zum | |||||||
dritten male, bekam ich von seiner Schwester die Antwort: Kuno ist | |||||||
gestern gestorben, u. sie habe unmöglich jezo Zeit die Sachen zu praepariren:. | |||||||
Er war einer der gemeinsten Empiriker, so wie einer der | |||||||
gemeinsten Menschen überhaupt. Charlatan konnte man ihn nicht | |||||||
nennen, er machte eben nicht viel Aufhebens von seiner Wissenschafft. | |||||||
war auch nicht sehr bekümert sich mehr damit zu erwerben als er | |||||||
zu seinem Brandwein nöthig hatte den er von Morgen bis Abend | |||||||
trank, und der ihm vermuthlich auch den plötzlichen Tod zuwege gebracht. | |||||||
Er war daher der nachläßigste Kerl, er hatte nie von seinen | |||||||
Künsteleyen Etwas vorräthig, sondern er mußte sie immer erst zubereiten | |||||||
wenn man sie haben wollte. Aber ich muß es zu seinem | |||||||
Ruhme sagen, daß er Zusammensetzungen besaß die vortreflich waren, | |||||||
und mit denen er viele Elende, die alle Aerzte aufgegeben, half. Seine | |||||||
Schwester ist nun die Besitzerin seiner Arcana, und in einigen Tagen | |||||||
gehe ich zu ihr, um mir die Mittel für Ihren Patienten geben zu | |||||||
lassen. - Indessen muß ich doch gestehen, daß ich so ganz aus vollem | |||||||
Herzen unserm Kranken nicht zu ihrem Gebrauche rathen kann. Die | |||||||
Mittel enthalten allem Vermuthen nach austrocknende und zusammenziehende | |||||||
Dinge und da diese Flechten einen so großen Theil des | |||||||
Körpers einnehmen, so ist doch wol zu befürchten, daß die scharfe | |||||||
Materie welche die Natur hier in so ansehnlicher Menge deponirt, | |||||||
zurück auf einen edlern Theil getrieben wird. Mit dieser Art Ausschläge | |||||||
von geringerm Umfange ist es allerdings anders. Diese pflegte | |||||||
ich immer ohne Anstand dem Kuno zur Kur zu zu schicken. | |||||||
Ich wünschte doch, daß der Patient bevor er zu den empirischen | |||||||
Mitteln schreitet, noch einen Versuch mit der Belladonna machte, von | |||||||
der ich in ähnlichen Fällen manche gute Wirkung gesehen. Die Pulver | |||||||
werden 8 Tage hinter einander alle Morgen eins genommen. Den | |||||||
neunten Tag wird der Patient mit zwey Loth Glaubersalz purgirt, | |||||||
und alsdann müssen die Pulver wiederum 8 Tage gebraucht werden. | |||||||
Zu gleicher Zeit kann folgendes Decoct täglich zu 1 bis 1 /2 Quart | |||||||
getrunken werden, womit auch die leidende Stellen einige mal des | |||||||
Tages gewaschen werden. Diese Kurart wünschte ich wenigstens drey | |||||||
Wochen lang fortgesetzt, und wenn diese nicht anschlägt, so ist immer | |||||||
Zeit zu der Seife und Spiritus seine Zuflucht zu nehmen. Es verstehet | |||||||
sich, daß der Patient alle zahe, fette und scharfe Speisen vermeiden, | |||||||
und so viel als moglich an vegetabilischer Nahrung sich | |||||||
halten muß. | |||||||
Leben Sie wohl bester verehrungswürdiger Mann und behalten | |||||||
mich lieb. Ich schicke Ihnen mit nächstem einen psychologisch medicinischen | |||||||
Aufsatz über den Schwindel den ich jezo unter der Presse | |||||||
habe, wovon die Grundidee noch seit einer einstmaligen Unterredung | |||||||
mit Ihnen in meiner Seele lag. | |||||||
Ihr ergebenster Schüler u. Freund | |||||||
Berlin den 25t. November 1785. | |||||||
Marcus Herz. | |||||||
Mein Freund H. Friedländer empfielt sich Ihnen ganz ergebenst. | |||||||
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