Kant: Briefwechsel, Brief 210, An Iohann Schultz. |
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An Iohann Schultz. | |||||||
26. Aug. 1783. | |||||||
Es macht mir ungemein viel Vergnügen, einen so scharfsinnigen | |||||||
Mann, als Ew. Hochehrwürden, an meine Versuche mit Hand anlegen | |||||||
zu sehen, vornehmlich aber die Allgemeinheit der Übersicht mit der | |||||||
Sie allenthalben das Wichtigste und Zweckmäßigste auszuheben und | |||||||
die Richtigkeit, mit welcher Sie meinen Sinn zu treffen gewußt. Dieses | |||||||
letztere tröstet mich vorzüglich für die Kränkung, fast von niemand | |||||||
verstanden worden zu seyn und nimmt die Besorgniß weg, daß ich die | |||||||
Gabe mich verständlich zu machen in so gringem Grade, vielleicht in | |||||||
einer so schweren Materie gar nicht besitze; und alle Arbeit vergeblich | |||||||
aufgewandt haben möchte. Nun da sich ein verdienstvoller Mann findet, | |||||||
der einen Beweis abgiebt, daß ich verstanden werden könne, und zugleich | |||||||
ein Beyspiel, daß meine Aufsätze nicht ganz unwürdig seyn | |||||||
durchgedacht zu werden, um sie zu verstehen und hernach allererst ihren | |||||||
Werth oder Unwerth zu beurtheilen: so hoffe ich, es werde die Wirkung | |||||||
thun, die ich wünsche, die längst zurückgelegte Sache der Metaphys: | |||||||
auf neue vorzunehmen und zur Entscheidung zu bringen. | |||||||
Wie tief und richtig Sie in den Geist der Sache gedrungen sind, | |||||||
sehe ich unter andern aus dem P. S. Ihres geehrten Schreibens: da | |||||||
Sie den Gedanken äußern, daß jede 3te Categorie wohl ein von den | |||||||
beiden vorstehenden abgeleiteter Begriff seyn könne; eine ganz richtige | |||||||
Vermuthung, die Ihnen von selbst beygefallen ist, indem meine Äußerung | |||||||
dieser Eigenschaft ( Prolegom : Pag. 122 Anmerkung No.1) leicht | |||||||
hat übersehen werden können. Diese und die anderen, zum Theil erwähnten | |||||||
Eigenschaften der Tafel der Verstandesbegriffe scheinen mir | |||||||
noch Stoff zu einer vielleicht wichtigen Erfindung zu enthalten, der ich | |||||||
aber nicht nachzugehen vermag und die einem mathematischen Kopfe, | |||||||
wie dem Ihrigen, vorbehalten ist: eine Artem characteristicam combinatoriam | |||||||
daran in Ausübung zu bringen, die, wenn Sie überall | |||||||
irgend möglich ist, bey den gleichen Elementarbegriffen vorzüglich angehen | |||||||
müßte und, da die Bedingungen der Sinnlichkeit a priori von | |||||||
jenen ganz unterschieden seyn, (wozu doch noch Erfindung überhaupt, | |||||||
als die Materie derselben, doch ohne diese empirisch zu bestimmen, genommen | |||||||
werden müßte) so würden jene gantz anderen Charakter als | |||||||
diese bekommen. Es würden sich Regeln geben lassen, welche dem | |||||||
Augenschein klar darlegten, wie Objekte der Sinnlichkeit eine Categorie | |||||||
zum Prädikate haben können (so fern sie als Gegenstände der Erfahrung | |||||||
angesehen werden) aber auch umgekehrt: daß Categorien, ohne | |||||||
eine angehängte Bedingung, dadurch sie nun auf Gegenstände der | |||||||
Sinne bezogen werden, keine Bestimmungen in Raum und Zeit an | |||||||
sich haben können etc. Dergleichen ich etwas schon in der disertat. | |||||||
de mundo sensibili in dem Abschnitt de methodo circa sensibilia et | |||||||
intellectualia berührt habe. Vielleicht findet Ihre Scharfsinnigkeit | |||||||
durch Mathematic unterstützt hier einen helleren Prospekt, wo mir nur | |||||||
etwas, wie im Nebel verhüllt, vor Augen schwebt. | |||||||
Den mir zugesandten trefflichen Aufsatz würde jetzt sogleich Ew. | |||||||
Hochehrwürden zurück zu senden die Ehre haben, indem ich was die | |||||||
richtige Vorstellung meines Sinns betrifft, beynahe gar nichts daran | |||||||
zu ändern finde; allein eine andere Absicht, die Ihnen vielleicht nicht | |||||||
misfällig seyn möchte zu befördern, bewegt mich gedachten Aufsatz noch | |||||||
auf ein paar Tage auszubitten. Als Recension, von welcher nicht | |||||||
verlangt werden kann, daß der Leser sie ohne Zuziehung des Buchs | |||||||
hinreichend verstehe, könnte Ihr Aufsatz, so wie er ist, sammt dem, | |||||||
was Sie noch hinzuzufügen Belieben tragen möchten, in eines von | |||||||
den Iournalen z. B. der deutschen Bibliothek willkommen seyn; allein | |||||||
die notice, die das Publikum davon bekommt, ist langsam und wenig | |||||||
ausgebreitet. | |||||||
Sollte es aber (wie es mir besser zu seyn dünkt) eine vor sich | |||||||
bestehende piece werden, so scheint es als ob an einigen wenigen | |||||||
Stellen, vornemlich denen, so die Dialectic betreffen, einige kleine Einschiebsel | |||||||
nicht unnöhig seyn möchten, um dem Leser das Verstehen zu | |||||||
erleichtern und den Misverstand zu verhüten, wovor Sie bis dahin | |||||||
so trefflich gesorgt haben. Dergleichen wollte ich mir nun die Freyheit | |||||||
nehmen, zu Ew. Hochehrw. beliebiger Wahl, binnen ein Paar | |||||||
Tagen zuzuschicken Es würde schon geschehen seyn, wenn nicht, wie | |||||||
ich vermuthe, die jetzige Witterung auf meinen Korper sowohl als auf | |||||||
die Denkkraft einen beschweerlichen Einflus hätte und mich zu aller | |||||||
Kopfarbeit unlustig und untauglich machte. Sollten Sie aber hierinn | |||||||
einen andern Plan zu befolgen gut finden, so werde gedachten Aufsatz | |||||||
sogleich zuzustellen die Ehre haben und beharre mit vorzüglicher Hochachtung | |||||||
Ew. Hochehrwürden | |||||||
K. | ganz ergebener Diener | ||||||
den 26. Aug. 1783. | I Kant. | ||||||
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