Kant: Briefwechsel, Brief 104, Von Iohann Heinrich Kant.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Heinrich Kant.      
           
  16. Aug. 1775.      
           
  Liebster Bruder!      
           
  Eine Gelegenheit wie diese, an Dich zu schreiben, kan ich nicht      
  vorbeygehen lassen. Den Hrn. von Medem, der dir diesen Brief einhändiget,      
  kenne ich schon von den ersten Iahren seiner Kindheit. Er      
  ist der Sohn des Oberhoffmeisters an unsrem Hoffe. Ein Iüngling,      
           
  der ganz von dem Schlendrian des hiesigen Adels abweicht, aus Liebe      
  zu den Wissenschaften, und nicht blos den Baron zu spielen, nach      
  Leipzig geth. Du wirst in ihm gewis sehr gute Anlagen finden.      
  Mache ihm aus Liebe zu mir (ich hoffe, daß es auch aus Achtung      
  für seinen persönlichen Caracter geschehen wird) seinen Auffenthalt in      
  Konigsberg so angenehm, als es deine Geschäfte und Verbindungen      
  nur erlauben wollen. Mir hat der Entschlus zu heyrathen noch nicht      
  gereuet. An der Seite meiner lieben Frauen, bin ich bey einer sehr      
  Frugalen Mahlzeit weit glücklicher, als ich es vormahls je an den      
  üppigen Tafeln des stoltzen Adels gewesen. Giebt es denn keine Ferien      
  auf eurer Universit.? Komm auf einige Wochen nach Mietau, und      
  sieh, wie zufrieden dein Bruder mit seiner Mariane lebt. Doch einen      
  solch verhärteten Garéon wie Du bist, wird ein Beyspiel ehelicher Zärtlichkeit      
  nicht rühren. Wir haben auf unserer Academie Leute die      
  einer Universit. Ehre machen würden, an kleinen Tracasserien fehlt      
  es aber auch nicht, und diese divertiren den uninterreßirten Zuschauer      
  ungemein. Meine Lebensart ist übrigens sehr mühsam, ich habe      
  meinen ganzen Tag mit Lehrstunden besetzt und alle mein Haus mit      
  Kostgängern angefült, und dies ist nothwendig, um ehrlich durchkommen      
  zu können. Mein verehrungswürdiger Hr. Vetter Richter meine Tante,      
  und meine Schwestern müssen es mir vergeben, daß ich noch nicht an      
  sie geschrieben, wo nehme ich Zeit dazu her. Nächstens will ich dieser      
  Pflicht ein Gnüge thun. Bis dahin empfehle ich mich in diesem Blatte      
  ihrem Herzen. Meine Frau überschicket Dir einen schwesterlichen Kuß,      
  und ich bin mit dem aufrichtigsten Herzen      
           
    Dein      
  Mietau getreuer      
  d. 16 Aug Bruder      
  1775. Kant.      
           
           
           
     

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