Kant: AA XX, Preisschrift über die ... , Seite 319 |
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01 | die Sätze, welche Gegenstände derselben als wirklich annehmen, ganz | ||||||
02 | irrig seyn, und es ist doch kein Probierstein da, diesen Irrthum zu entdecken. | ||||||
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04 | Selbst der Begriff des Übersinnlichen, an welchem die Vernunft ein | ||||||
05 | solches Interesse nimmt, daß darum Metaphysik, wenigstens als Versuch, | ||||||
06 | überhaupt existirt, jederzeit gewesen ist, und fernerhin sein wird; dieser | ||||||
07 | Begriff, ob er objective Realität habe, oder bloße Erfindung sey, läßt | ||||||
08 | sich auf dem theoretischen Wege aus derselben Ursache durch keinen Probierstein | ||||||
09 | direct ausmachen. Denn Widerspruch ist zwar in ihm nicht anzutreffen, | ||||||
10 | aber, ob nicht alles, was ist und seyn kann, auch Gegenstand möglicher | ||||||
11 | Erfahrung sey, mithin der Begriff des Übersinnlichen überhaupt | ||||||
12 | nicht völlig leer und der vermeynte Fortschritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen | ||||||
13 | also nicht weit davon entfernt sey, für reell gehalten werden | ||||||
14 | zu dürfen, läßt sich direct durch keine Probe, die wir mit ihm anstellen | ||||||
15 | mögen, beweisen oder widerlegen. | ||||||
16 | Ehe aber noch die Metaphysik bis dahin gekommen ist, diesen Unterschied | ||||||
17 | zu machen, hat sie Ideen, die lediglich das Übersinnliche zum Gegenstande | ||||||
18 | haben können, mit Begriffen a priori, denen doch die Erfahrungsgegenstände | ||||||
19 | angemessen sind, im Gemenge genommen, indem es ihr | ||||||
20 | gar nicht in Gedanken kam, daß der Ursprung derselben von andern reinen | ||||||
21 | Begriffen a priori verschieden seyn könne; dadurch es denn geschehen ist, | ||||||
22 | welches in der Geschichte der Verirrungen der menschlichen Vernunft | ||||||
23 | besonders merkwürdig ist, daß, da diese sich vermögend fühlt, von Dingen | ||||||
24 | der Natur und überhaupt von dem, was Gegenstand möglicher Erfahrung | ||||||
25 | seyn kann (nicht bloß in der Naturwissenschaft, sondern auch in der | ||||||
26 | Mathematik), einen großen Umfang von Erkenntnissen a priori zu erwerben, | ||||||
27 | und die Realitätndieser Fortschritte durch die That bewiesen hat, sie | ||||||
28 | gar nicht absehen kann, warum es ihr nicht noch weiter mit ihren Begriffen | ||||||
29 | a priori gelingen könne, nämlich bis zu Dingen oder Eigenschaften derselben, | ||||||
30 | die nicht zu Gegenständen der Erfahrung gehören, glücklich durchzudringen. | ||||||
31 | Sie mußte nothwendig die Begriffe aus beyden Feldern für | ||||||
32 | Begriffe von einerley Art halten, weil sie ihrem Ursprunge nach sofern | ||||||
33 | wirklich gleichartig sind, daß beyde a priori in unserm Erkenntnißvermögen | ||||||
34 | gegründet, nicht aus der Erfahrung geschöpft sind und also zu gleicher | ||||||
35 | Erwartung eines reellen Bessitzes und Erweiterung desselben berechtigt | ||||||
36 | zu seyn scheinen. | ||||||
37 | Allein ein anderes sonderbares Phänomen mußte die auf dem Polster | ||||||
38 | ihres vermeyntlich durch Ideen über alle Grenzen möglicher Erfahrung | ||||||
39 | erweiterten Wissens schlummernde Vernunft endlich aufschrecken, und | ||||||
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