Kant: AA XV, Zweiter Anhang Medicin. , Seite 973 |
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| 01 | was das öftere Eräugnis einer solchen Versuchung betrift, dieser Fall | |||||||
| 02 | genug vorkommt. | |||||||
| 03 | In Todesgefahr zu gerathen ist allerdings ein großes Übel, und wer | |||||||
| 04 | sich darinn bringt, da er es hat vermeiden können, fehlt (peccat), ist | |||||||
| 05 | unklug aus Leichtsinn; aber der, welcher sich der Gefahr aussetzt, zu | |||||||
| 06 | lasterhaften That verleitet zu werden, der verbricht (delinquit) wenn | |||||||
| 07 | er sie gleich nicht ausgeübt hat, und ist ein böser Mensch. — Andere | |||||||
| 08 | Menschen aber vorsetzlich in die eine oder die andere dieser Gefahren | |||||||
| 09 | durch Beyspiel oder Beredung zu bringen, ist Bosheit (malitia). Ein | |||||||
| 10 | habituell böser ist ein verworfener mensch (deperditus). | |||||||
| 11 | Nun wird die Frage aufgeworfen: Ist es erlaubt, einen anderen in | |||||||
| 12 | die eine oder die andere dieser Gefahren, mit oder ohne seine Einwilligung, | |||||||
| 13 | zu bringen, damit etwas Gutes — ein physisches oder moralisches Heil | |||||||
| 14 | für Menschen herauskomme, das ohne diese Gefährlichkeit (periclitatio | |||||||
| 15 | moralis) nicht bewirkt werden duerfte. der Apostel sagt: „daß deren, die | |||||||
| 16 | so denken, Verdammnis ganz recht sey“. Ein großes Beyspiel für diese | |||||||
| 17 | Casuistische jetzt sehr in Anregung gebrachte Frage ist eine besondere Art | |||||||
| 18 | von Gefahren, nämlich: | |||||||
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| 20 | Abgesehen von der moralischen Bedenklichkeit, ein Übel in der Welt, | |||||||
| 21 | dem man steuren könnte, geschehen zu lassen, ja es wohl gar zu veranstalten, | |||||||
| 22 | wird diese so genante Noth bey der Seltenheit einer Epidemie | |||||||
| 23 | dieser Art gar wenig gefühlt, und von der Unsicherheit des Lebens der | |||||||
| 24 | Kinder überhaupt in der ersten Epoche desselben verschlungen, ohne Aufsehen | |||||||
| 25 | zu machen, und es scheint, daß es mehr den Aerzten darum zu thun | |||||||
| 26 | ist, ihrer Heilkunde Ehre zu machen, als einer vom Volk gefühlten großen | |||||||
| 27 | Noth abzuhelfen, wie etwa der Hungersnoth, Holtznoth, u. d. g. | |||||||
| 28 | Es ist also bey dem Pockenübel, was nun schon von undenklicher Zeit | |||||||
| 29 | her in das Menschengeschlecht eingeartet zu seyn scheint, die gefahr | |||||||
| 30 | nicht so wohl in dem, was wir leiden müssen, als was wir hiebey veranstalten | |||||||
| 31 | sollen, d. i. um die Moralität unseres Verhaltens zu thun, diese | |||||||
| 32 | Krankheit und deren Abwendung entweder dem Zufall der Naturursachen | |||||||
| 33 | zu überlassen mit Zuziehung der Meister in der Kunst, nämlich der Aerzte | |||||||
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