Kant: AA X, Briefwechsel 1770 , Seite 098

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ich mit denselben gekommen bin, Ihnen vorzulegen, mit der festen Versicherung      
  02 keinen Satz gelten zu lassen, der nicht in Ihrem Urtheil      
  03 vollkommene evidentz hat; denn wenn er diese Beystimmung sich nicht      
  04 erwerben kan, so ist der Zwek verfehlt, diese Wissenschaft außer allem      
  05 Zweifel auf gantz unstreitige Regeln zu gründen. Vorjetzt würde mir      
  06 Dero einsehendes Urtheil über einige Hauptpunkte meiner dissertation      
  07 sehr angenehm und auch unterweisend seyn, weil ich ein paar Bogen      
  08 noch dazu zu thun gedenke, um sie auf künftige Messe auszugeben,      
  09 darinn ich die Fehler der Eilfertigkeit verbessern und meinen Sinn      
  10 besser bestimmen will. Die erste u. vierte section können als unerheblich      
  11 übergangen werden, aber in der zweyten dritten und fünften,      
  12 ob ich solche zwar wegen meiner Unpäslichkeit gar nicht zu meiner      
  13 Befriedigung ausgearbeitet habe, scheint mir eine Materie zu liegen      
  14 welche wohl einer sorgfältigern und weitläuftigeren Ausführung würdig      
  15 wäre. Die allgemeinsten Gesetze der Sinnlichkeit spielen fälschlich in der      
  16 Metaphysic, wo es doch blos auf Begriffe und Grundsätze der reinen      
  17 Vernunft ankömt, eine große Rolle. Es scheinet eine ganz besondere,      
  18 obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor      
  19 der Metaphysic vorher gehen zu müssen, darinn denen principien der      
  20 Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit      
  21 sie nicht die Urtheile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren,      
  22 wie bis daher fast immer geschehen ist. Denn Raum und Zeit und      
  23 die Axiomen alle Dinge unter den Verhältnissen derselben zu betrachten,      
  24 sind in Betracht der empirischen Erkentnisse und aller      
  25 Gegenstände der Sinne sehr real und enthalten wirklich die conditionen      
  26 aller Erscheinungen und empirischen Urtheile. Wenn aber etwas gar      
  27 nicht als ein Gegenstand der Sinne, sondern durch einen allgemeinen      
  28 u. reinen Vernunftbegrif, als ein Ding oder eine substantz überhaupt,      
  29 etc. gedacht wird so kommen sehr falsche positionen heraus, wenn man      
  30 sie den gedachten Grundbegriffen der Sinnlichkeit unterwerfen will.      
  31 Mir scheint es auch, und vielleicht bin ich so glücklich durch diesen      
  32 obgleich noch sehr mangelhaften Versuch Ihre Beystimmung darinn zu      
  33 erwerben, daß sich eine solche propaedevtische disciplin, welche die      
  34 eigentliche metaphysic von aller solcher Beymischung des Sinnlichen      
  35 praeservirte, durch nicht eben große Bemühungen zu einer brauchbaren      
  36 Ausführlichkeit und evidentz leichtlich bringen ließe      
           
  37 Ich erbitte mir aufs künftige Dero Freundschaft und günstige      
           
     

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