Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 492 |
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01 | geziemend zu zeigen. Sie ist wohl zu unterscheiden von der Dummdreistigkeit, | ||||||
02 | die in der Gleichgültigkeit gegen das Urtheil Anderer besteht. | ||||||
03 | Alle Begierden des Menschen sind entweder formal (Freiheit und Vermögen), | ||||||
04 | oder material (auf ein Object bezogen), Begierden des Wahnes | ||||||
05 | oder des Genusses, oder endlich sie beziehen sich auf die bloße Fortdauer | ||||||
06 | von beiden, als Elemente der Glückseligkeit. | ||||||
07 | Begierden der ersten Art sind Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht; | ||||||
08 | die der zweiten Genuß des Geschlechtes (Wollust), der Sache (Wohlleben), | ||||||
09 | oder der Gesellschaft (Geschmack an Unterhaltung). Begierden der dritten | ||||||
10 | Art endlich sind Liebe zum Leben, zur Gesundheit, zur Gemächlichkeit (in | ||||||
11 | der Zukunft, Sorgenfreiheit). | ||||||
12 | Laster aber sind entweder die der Bosheit, oder der Niederträchtigkeit, | ||||||
13 | oder der Eingeschränktheit. Zu den erstern gehören Neid, Undankbarkeit | ||||||
14 | und Schadenfreude; zu denen der zweiten Art Ungerechtigkeit, Untreue | ||||||
15 | (Falschheit), Lüderlichkeit sowohl im Verschwenden der Güter, als der | ||||||
16 | Gesundheit (Unmäßigkeit) und der Ehre. Laster der dritten Art sind Lieblosigkeit, | ||||||
17 | Kargheit, Trägheit (Weichlichkeit). | ||||||
18 | Die Tugenden sind entweder Tugenden des Verdienstes, oder blos | ||||||
19 | der Schuldigkeit, oder der Unschuld. Zu den erstern gehört Großmuth | ||||||
20 | (in Selbstüberwindung sowohl der Rache, als der Gemächlichkeit und der | ||||||
21 | Habsucht), Wohlthätigkeit, Selbstbeherrschung; zu den zweiten Redlichkeit, | ||||||
22 | Anständigkeit und Friedfertigkeit; zu den dritten endlich Ehrlichkeit, Sittsamkeit | ||||||
23 | und Genügsamkeit. | ||||||
24 | Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? | ||||||
25 | Keines von beiden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er | ||||||
26 | wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht | ||||||
27 | und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich | ||||||
28 | Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instincte, | ||||||
29 | die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er | ||||||
30 | kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, | ||||||
31 | ob er gleich ohne Anreize unschuldig sein kann. | ||||||
32 | Laster entspringen meistens daraus, daß der gesittete Zustand der | ||||||
33 | Natur Gewalt thut, und unsre Bestimmung als Menschen ist doch, aus | ||||||
34 | dem rohen Naturstande als Thier herauszutreten. Vollkommne Kunst | ||||||
35 | wird wieder zur Natur. | ||||||
36 | Es beruht alles bei der Erziehung darauf, daß man überall die | ||||||
37 | richtigen Gründe aufstelle und den Kindern begreiflich und annehmlich | ||||||
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