Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 491

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Verdienstliches vorstellen.*) Ohne daran zu denken, daß wir in Rücksicht      
  02 auf Gott nie mehr, als unsere Schuldigkeit thun können, so ist es auch nur      
  03 unsere Pflicht, dem Armen Gutes zu thun. Denn die Ungleichheit      
  04 des Wohlstandes der Menschen kommt doch nur von gelegentlichen Umständen      
  05 her. Besitze ich also ein Vermögen, so habe ich es auch nur dem      
  06 Ergreifen dieser Umstände, das entweder mir selbst oder meinem Vorgänger      
  07 geglückt ist, zu danken, und die Rücksicht auf das Ganze bleibt doch      
  08 immer dieselbe.      
           
  09 Der Neid wird erregt, wenn man ein Kind aufmerksam darauf macht,      
  10 sich nach dem Werthe Anderer zu schätzen. Es soll sich vielmehr nach den      
  11 Begriffen seiner Vernunft schätzen. Daher ist die Demuth eigentlich nichts      
  12 anders, als eine Vergleichung seines Werthes mit der moralischen Vollkommenheit.      
  13 So lehrt z. E. die christliche Religion nicht sowohl die      
  14 Demuth, als sie vielmehr den Menschen demüthig macht, weil er sich ihr      
  15 zufolge mit dem höchsten Muster der Vollkommenheit vergleichen muß.      
  16 Sehr verkehrt ist es, die Demuth darein zu setzen, daß man sich geringer      
  17 schätze als Andre. - Sieh, wie das und das Kind sich aufführt! u. dergl.:      
  18 ein Zuruf der Art bringt eine nur sehr unedle Denkungsart hervor. Wenn      
  19 der Mensch seinen Werth nach Andern schätzt, so sucht er entweder sich über      
  20 den Andern zu erheben, oder den Werth des Andern zu verringern. Dieses      
  21 letztere aber ist Neid. Man sucht dann immer nur dem Andern eine Vergehung      
  22 anzudichten; denn wäre der nicht da, so könnte man auch nicht      
  23 mit ihm verglichen werden, so wäre man der Beste. Durch den übel angebrachten      
  24 Geist der Ämulation wird nur Neid erregt. Der Fall, in dem      
  25 die Ämulation noch zu etwas dienen könnte, wäre der, jemand von der      
  26 Thunlichkeit einer Sache zu überzeugen, z. E. wenn ich von dem Kinde      
  27 ein gewisses Pensum gelernt fordre und ihm zeige, daß Andre es leisten      
  28 können.      
           
  29 Man muß auf keine Weise ein Kind das andre beschämen lassen.      
  30 Allen Stolz, der sich auf Vorzüge des Glückes gründet, muß man zu vermeiden      
  31 suchen. Zu gleicher Zeit muß man aber suchen, Freimüthigkeit      
  32 bei den Kindern zu begründen. Sie ist ein bescheidenes Zutrauen zu sich      
  33 selbst. Durch sie wird der Mensch in den Stand gesetzt, alle seine Talente      
           
    *) Und noch ärger machen sie diesen Fehler, wenn sie dieses, wie alles übrige sogenannte Verdienstliche, als einen Grund zu Ansprüchen auf Belohnung darstellen. A. d. H.      
           
     

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