Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 483

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Gehorsam ist ferner entweder Gehorsam des Kindes, oder      
  02 des angehenden Jünglinges. Bei der Übertretung desselben erfolgt      
  03 Strafe. Diese ist entweder eine wirklich natürliche Strafe, die sich der      
  04 Mensch selbst durch sein Betragen zuzieht, z. E. daß das Kind, wenn es      
  05 zu viel ißt, krank wird, und diese Strafen sind die besten, denn der Mensch      
  06 erfährt sie sein ganzes Leben hindurch und nicht blos als Kind; oder aber      
  07 die Strafe ist künstlich. Die Neigung, geachtet und geliebt zu werden,      
  08 ist ein sicheres Mittel, die Züchtigungen in der Art einzurichten, daß sie      
  09 dauerhaft sind. Physische Strafen müssen blos Ergänzungen der Unzulänglichkeit      
  10 der moralischen sein. Wenn moralische Strafen gar nicht mehr      
  11 helfen, und man schreitet dann zu physischen fort, so wird durch diese doch      
  12 kein guter Charakter mehr gebildet werden. Anfänglich aber muß der      
  13 physische Zwang den Mangel der Überlegung der Kinder ersetzen.      
           
  14 Strafen, die mit dem Merkmale des Zornes verrichtet werden, wirken      
  15 falsch. Kinder sehen sie dann nur als Folgen, sich selbst aber als Gegenstände      
  16 des Affectes eines Andern an. Überhaupt müssen Strafen den      
  17 Kindern immer mit der Behutsamkeit zugefügt werden, daß sie sehen, da      
  18 blos ihre Besserung der Endzweck derselben sei. Die Kinder, wenn sie gestraft      
  19 sind, sich bedanken, sie die Hände küssen lassen u. dergl., ist thöricht      
  20 und macht die Kinder sklavisch. Wenn physische Strafen oft wiederholt      
  21 werden, bilden sie einen Starrkopf, und strafen Eltern ihre Kinder des      
  22 Eigensinnes wegen, so machen sie sie nur noch immer eigensinniger.      
  23 Das sind auch nicht immer die schlechtesten Menschen, die störrisch sind,      
  24 sondern sie geben gütigen Vorstellungen öfters leicht nach.      
           
  25 Der Gehorsam des angehenden Jünglinges ist unterschieden von dem      
  26 Gehorsam des Kindes. Er besteht in der Unterwerfung unter die Regeln      
  27 der Pflicht. Aus Pflicht etwas thun, heißt: der Vernunft gehorchen.      
  28 Kindern etwas von Pflicht zu sagen, ist vergebliche Arbeit. Zuletzt sehen      
  29 sie dieselbe als etwas an, auf dessen Übertretung die Ruthe folgt.*) Das      
  30 Kind könnte durch bloße Instincte geleitet werden, sobald es aber erwächst,      
  31 muß der Begriff der Pflicht dazutreten. Auch die Scham muß nicht gebraucht      
           
    *) Frage ich das Kind, ob dies oder jenes, was es selbst eben that, recht war, oder nicht: so wird es mir und zwar meistens richtig antworten. War es etwas Unrechtes, und frage ich nun weiter: Hättest du es also wohl thun sollen?, so wird es unfehlbar mit Nein! antworten. Baut man auf dieses Bewußtsein weiter fort: so bildet das Kind sich allmählich gewissermaßen selbst den Pflichtbegriff, ohne ihm von demselben viel vorschwatzen zu dürfen. Wer aber in solchem Falle noch der [Seitenumbruch] Ruthe nöthig hat, ist entweder ein schlechter Erzieher, oder er hat es mit einem schon verdorbenen Kinde, das er vielleicht selbst und gerade durch seine Schläge verdarb, zu thun. Wenn man aber das Kind in der Art erzieht: so muß man es hauptsächlich nur auf seine eignen Handlungen und deren Rechtmäßigkeit zurückführen und sich höchstens bei sehr auffallenden, dem Kinde sehr bemerkbar gewordenen Handlungen seiner Gespielen oder anderer eine Ausnahme erlauben, weil ein entgegengesetztes Verfahren leicht zur Tadelsucht und Medisance führen könnte. A. d. H.      
           
     

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