Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 476 |
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01 | der Sinne, z. E. des Augenmaßes, ist schon oben geredet worden. Was | ||||||
02 | die Cultur der Einbildungskraft anlangt, so ist folgendes zu merken. | ||||||
03 | Kinder haben eine ungemein starke Einbildungskraft, und sie braucht | ||||||
04 | gar nicht erst durch Märchen mehr gespannt und extendirt zu werden. Sie | ||||||
05 | muß vielmehr gezügelt und unter Regeln gebracht werden, aber doch muß | ||||||
06 | man sie auch nicht ganz unbeschäftigt lassen. | ||||||
07 | Landkarten haben etwas an sich, das alle, auch die kleinsten Kinder | ||||||
08 | reizt. Wenn sie alles andere überdrüssig sind, so lernen sie doch noch | ||||||
09 | etwas, wobei man Landkarten braucht. Und dieses ist eine gute Unterhaltung | ||||||
10 | für Kinder, wobei ihre Einbildungskraft nicht schwärmen kann, | ||||||
11 | sondern sich gleichsam an eine gewisse Figur halten muß. Man könnte | ||||||
12 | bei den Kindern wirklich mit der Geographie den Anfang machen. Figuren | ||||||
13 | von Thieren, Gewächsen usw. können damit zu gleicher Zeit verbunden | ||||||
14 | werden; diese müssen die Geographie beleben. Die Geschichte aber müßte | ||||||
15 | wohl erst später eintreten. | ||||||
16 | Was die Stärkung der Aufmerksamkeit anbetrifft: so ist zu bemerken, | ||||||
17 | daß diese allgemein gestärkt werden muß. Eine starre Anheftung unserer | ||||||
18 | Gedanken an ein Object ist nicht sowohl ein Talent, als vielmehr eine | ||||||
19 | Schwäche unsers innern Sinnes, da er in diesem Falle unbiegsam ist und | ||||||
20 | sich nicht nach Gefallen anwenden läßt. Zerstreuung ist der Feind aller | ||||||
21 | Erziehung. Das Gedächtniß aber beruht auf der Aufmerksamkeit. | ||||||
22 | Was aber die obern Verstandeskräfte betrifft: so kommt hier vor | ||||||
23 | die Cultur des Verstandes, der Urtheilskraft und der Vernunft. Den | ||||||
24 | Verstand kann man im Anfange gewissermaßen auch passiv bilden durch | ||||||
25 | Anführung von Beispielen für die Regel, oder umgekehrt durch Auffindung | ||||||
26 | der Regel für die einzelnen Fälle. Die Urtheilskraft zeigt, welcher Gebrauch | ||||||
27 | von dem Verstande zu machen ist. Er ist erforderlich, um, was | ||||||
28 | man lernt oder spricht, zu verstehen und um nichts, ohne es zu verstehen, | ||||||
29 | nachzusagen. Wie mancher liest und hört etwas, ohne es, wenn er es | ||||||
30 | auch glaubt, zu verstehen! Dazu gehören Bilder und Sachen. | ||||||
31 | Durch die Vernunft sieht man die Gründe ein. Aber man muß bedenken, | ||||||
32 | daß hier von einer Vernunft die Rede ist, die noch geleitet wird. | ||||||
33 | Sie muß also nicht immer räsonniren wollen, aber es muß auch ihr | ||||||
34 | über das, was die Begriffe übersteigt, nicht viel vorräsonnirt werden. | ||||||
35 | Noch gilt es hier nicht die speculative Vernunft, sondern die Reflexion | ||||||
36 | über das, was vorgeht, nach seinen Ursachen und Wirkungen. Es ist eine | ||||||
37 | in ihrer Wirthschaft und Einrichtung praktische Vernunft. | ||||||
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