Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 071 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | mathematische und das philosophische Vernunfterkenntniß an sich gleich | ||||||
02 | gewiß ist: so ist doch die Art der Gewißheit in beiden verschieden. | ||||||
03 | Die empirische Gewißheit ist eine ursprüngliche ( originarie empirica ), | ||||||
04 | sofern ich von etwas aus eigener Erfahrung, und eine abgeleitete | ||||||
05 | ( derivative empirica ), sofern ich durch fremde Erfahrung wovon | ||||||
06 | gewiß werde. Diese letztere pflegt auch die historische Gewißheit | ||||||
07 | genannt zu werden. | ||||||
08 | Die rationale Gewißheit unterscheidet sich von der empirischen durch | ||||||
09 | das Bewußtsein der Nothwendigkeit, das mit ihr verbunden ist, sie ist | ||||||
10 | also eine apodiktische, die empirische dagegen nur eine assertorische | ||||||
11 | Gewißheit. Rational gewiß ist man von dem, was man auch ohne alle | ||||||
12 | Erfahrung a priori würde eingesehen haben. Unsre Erkenntnisse können | ||||||
13 | daher Gegenstände der Erfahrung betreffen und die Gewißheit davon kann | ||||||
14 | doch empirisch und rational zugleich sein, sofern wir nämlich einen empirisch | ||||||
15 | gewissen Satz aus Principien a priori erkennen. | ||||||
16 | Rationale Gewißheit können wir nicht von Allem haben, aber da, wo | ||||||
17 | wir sie haben können, müssen wir sie der empirischen vorziehen. | ||||||
18 | Alle Gewißheit ist entweder eine unvermittelte oder eine vermittelte, | ||||||
19 | d. h. sie bedarf entweder eines Beweises, oder ist keines Beweises | ||||||
20 | fähig und bedürftig. Wenn auch noch so Vieles in unserm Erkenntnisse | ||||||
21 | nur mittelbar, d. h. nur durch einen Beweis gewiß ist: so muß es | ||||||
22 | doch auch etwas Indemonstrables oder unmittelbar Gewisses | ||||||
23 | geben und unser gesammtes Erkenntniß muß von unmittelbar gewissen | ||||||
24 | Sätzen ausgehen. | ||||||
25 | Die Beweise, auf denen alle vermittelte oder mittelbare Gewißheit | ||||||
26 | eines Erkenntnisses beruht, sind entweder directe oder indirecte d. h. | ||||||
27 | apagogische Beweise. Wenn ich eine Wahrheit aus ihren Gründen beweise, | ||||||
28 | so führe ich einen directen Beweis für dieselbe, und wenn ich von | ||||||
29 | der Falschheit des Gegentheils auf die Wahrheit eines Satzes schließe, | ||||||
30 | einen apagogischen. Soll aber dieser letztere Gültigkeit haben, so müssen | ||||||
31 | sich die Sätze contradictorisch oder diametraliter entgegengesetzt | ||||||
32 | sein. Denn zwei einander bloß conträr entgegengesetzte Sätze ( contrarie | ||||||
33 | opposita ) können beide falsch sein. Ein Beweis, welcher der Grund mathematischer | ||||||
34 | Gewißheit ist, heißt Demonstration und der der Grund philosophischer | ||||||
35 | Gewißheit ist, ein akroamatischer Beweis. Die wesentlichen | ||||||
36 | Stücke eines jeden Beweises überhaupt sind die Materie und die Form | ||||||
37 | desselben, oder der Beweisgrund und die Consequenz. | ||||||
[ Seite 070 ] [ Seite 072 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |