Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 055

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Dieser Unterschied betrifft die weitere oder engere Bestimmtheit      
  02 unsers Erkenntnisses ( cognitio late vel stricte determinata ). Anfangs      
  03 ist es zuweilen nöthig, ein Erkenntniß in einem weitern Umfange zu bestimmen      
  04 ( late determinare ), besonders in historischen Dingen. In Vernunfterkenntnissen      
  05 aber muß alles genau ( stricte ) bestimmt sein. Bei der      
  06 laten Determination sagt man: ein Erkenntniß sei praeter propter      
  07 determinirt. Es kommt immer auf die Absicht eines Erkenntnisses an, ob      
  08 es roh oder genau bestimmt sein soll. Die late Determination läßt noch      
  09 immer einen Spielraum für den Irrthum übrig, der aber doch seine bestimmten      
  10 Grenzen haben kann. Irrthum findet besonders da statt, wo      
  11 eine late Determination für eine stricte genommen wird, z. B. in Sachen      
  12 der Modalität, wo alles stricte determinirt sein muß. Die das nicht thun,      
  13 werden von den Engländern Latitudinarier genannt.      
           
  14 Von der Genauigkeit, als einer objectiven Vollkommenheit des Erkenntnisses      
  15 - da das Erkenntniß hier völlig mit dem Object congruirt      
  16 kann man noch die Subtilität als eine subjective Vollkommenheit      
  17 desselben unterscheiden.      
           
  18 Ein Erkenntniß von einer Sache ist subtil, wenn man darin dasjenige      
  19 entdeckt, was Anderer Aufmerksamkeit zu entgehen pflegt. Es erfordert      
  20 also einen höhern Grad von Aufmerksamkeit und einen größern Aufwand      
  21 von Verstandeskraft.      
           
  22 Viele tadeln alle Subtilität, weil sie sie nicht erreichen können. Aber      
  23 sie macht an sich immer dem Verstande Ehre und ist sogar verdienstlich      
  24 und nothwendig, sofern sie auf einen der Beobachtung würdigen Gegenstand      
  25 angewandt wird. Wenn man aber mit einer geringern Aufmerksamkeit      
  26 und Anstrengung des Verstandes denselben Zweck hätte erreichen      
  27 können, und man verwendet doch mehr darauf: so macht man unnützen      
  28 Aufwand und verfällt in Subtilitäten, die zwar schwer sind, aber zu nichts      
  29 nützen ( nugae difficiles ).      
           
  30 So wie dem Genauen das Rohe, so ist dem Subtilen das Grobe      
  31 entgegengesetzt.      
           
  32 Aus der Natur des Irrthums, in dessen Begriffe, wie wir bemerkten,      
  33 außer der Falschheit, noch der Schein der Wahrheit als ein wesentliches      
  34 Merkmal enthalten ist, ergiebt sich für die Wahrheit unsers Erkenntnisses      
  35 folgende wichtige Regel:      
           
           
     

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