Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 046 |
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01 | Die Humaniora betreffen also eine Unterweisung in dem, was zur | ||||||
02 | Cultur des Geschmacks dient, den Mustern der Alten gemäß. Dahin gehört | ||||||
03 | z. B. Beredsamkeit, Poesie, Belesenheit in den classischen Autoren | ||||||
04 | u. dgl. m. Alle diese humanistischen Kenntnisse kann man zum praktischen, | ||||||
05 | auf die Bildung des Geschmacks zunächst abzweckenden Theile der | ||||||
06 | Philologie rechnen. Trennen wir aber den bloßen Philologen noch vom | ||||||
07 | Humanisten, so würden sich beide darin von einander unterscheiden, da | ||||||
08 | jener die Werkzeuge der Gelehrsamkeit bei den Alten sucht, dieser hingegen | ||||||
09 | die Werkzeuge der Bildung des Geschmacks. | ||||||
10 | Der Belletrist oder bel esprit ist ein Humanist nach gleichzeitigen | ||||||
11 | Mustern in lebenden Sprachen. Er ist also kein Gelehrter, denn nur | ||||||
12 | todte Sprachen sind jetzt gelehrte Sprachen, sondern ein bloßer Dilettant | ||||||
13 | der Geschmackskenntnisse nach der Mode, ohne der Alten zu | ||||||
14 | bedürfen. Man könnte ihn den Affen des Humanisten nennen. Der | ||||||
15 | Polyhistor muß als Philolog Linguist und Literator und als Humanist | ||||||
16 | muß er Klassiker und ihr Ausleger sein. Als Philolog ist er cultivirt, | ||||||
17 | als Humanist civilisirt. | ||||||
18 | In Ansehung der Wissenschaften giebt es zwei Ausartungen des | ||||||
19 | herrschenden Geschmacks: Pedanterie und Galanterie. Die eine | ||||||
20 | treibt die Wissenschaften bloß für die Schule und schränkt sie dadurch ein | ||||||
21 | in Rücksicht ihres Gebrauches, die andre treibt sie bloß für den Umgang | ||||||
22 | oder die Welt und beschränkt sie dadurch in Absicht auf ihren Inhalt. | ||||||
23 | Der Pedant ist entweder als Gelehrter dem Weltmanne entgegengesetzt | ||||||
24 | und ist in so fern der aufgeblasene Gelehrte ohne Weltkenntniß, | ||||||
25 | d. i. ohne Kenntniß der Art und Weise, seine Wissenschaft an den Mann | ||||||
26 | zu bringen, oder er ist zwar als der Mann von Geschicklichkeit überhaupt | ||||||
27 | zu betrachten, aber nur in Formalien, nicht dem Wesen und Zwecke | ||||||
28 | nach. In der letztern Bedeutung ist er ein Formalienklauber; eingeschränkt | ||||||
29 | in Ansehung des Kerns der Sachen, sieht er nur auf das Kleid | ||||||
30 | und die Schale. Er ist die verunglückte Nachahmung oder Caricatur | ||||||
31 | vom methodischen Kopfe. Man kann daher die Pedanterie auch die | ||||||
32 | grüblerische Peinlichkeit und unnütze Genauigkeit (Mikrologie) in Formalien | ||||||
33 | nennen. Und ein solches Formale der Schulmethode außer der | ||||||
34 | Schule ist nicht bloß bei Gelehrten und im gelehrten Wesen, sondern auch | ||||||
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