Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 045 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Wissen des Nichtwissens nach seinem eigenen Geständnisse. Diejenigen | ||||||
02 | also, die sehr viele Kenntnisse besitzen und bei alle dem doch über die | ||||||
03 | Menge dessen, was sie nicht wissen, erstaunen, kann der Vorwurf der Unwissenheit | ||||||
04 | eben nicht treffen. | ||||||
05 | Untadelhaft ( inculpabilis ) ist überhaupt die Unwissenheit in Dingen, | ||||||
06 | deren Erkenntniß über unsern Horizont geht, und erlaubt (wiewohl | ||||||
07 | auch nur im relativen Sinne) kann sie sein in Ansehung des speculativen | ||||||
08 | Gebrauchs unserer Erkenntnißvermögen, sofern die Gegenstände | ||||||
09 | hier, obgleich nicht über, aber doch außer unserm Horizonte liegen. | ||||||
10 | Schändlich aber ist sie in Dingen, die zu wissen uns sehr nöthig und | ||||||
11 | auch leicht ist. | ||||||
12 | Es ist ein Unterschied, etwas nicht wissen und etwas ignoriren, | ||||||
13 | d. i. keine Notiz wovon nehmen. Es ist gut viel zu ignoriren, was | ||||||
14 | uns nicht gut ist zu wissen. Von beidem ist noch unterschieden das Abstrahiren. | ||||||
15 | Man abstrahirt aber von einer Erkenntniß, wenn man die | ||||||
16 | Anwendung derselben ignorirt, wodurch man sie in abstracto bekommt | ||||||
17 | und im Allgemeinen als Princip sodann besser betrachten kann. Ein solches | ||||||
18 | Abstrahiren von dem, was bei Erkenntniß einer Sache zu unserer | ||||||
19 | Absicht nicht gehört, ist nützlich und lobenswerth. | ||||||
20 | Historisch unwissend sind gemeiniglich Vernunftlehrer. | ||||||
21 | Das historische Wissen ohne bestimmte Grenzen ist Polyhistorie; | ||||||
22 | diese bläht auf. Polymathie geht auf das Vernunfterkenntniß. Beides, | ||||||
23 | das ohne bestimmte Grenzen ausgedehnte historische so wohl als rationale | ||||||
24 | Wissen kann Pansophie heißen. Zum historischen Wissen gehört die | ||||||
25 | Wissenschaft von den Werkzeugen der Gelehrsamkeit - die Philologie, | ||||||
26 | die eine kritische Kenntniß der Bücher und Sprachen (Literatur und | ||||||
27 | Linguistik) in sich faßt. | ||||||
28 | Die bloße Polyhistorie ist eine cyklopische Gelehrsamkeit, der ein | ||||||
29 | Auge fehlt, das Auge der Philosophie, und ein Cyklop von Mathematiker, | ||||||
30 | Historiker, Naturbeschreiber, Philolog und Sprachkundiger ist ein | ||||||
31 | Gelehrter, der groß in allen diesen Stücken ist, aber alle Philosophie darüber | ||||||
32 | für entbehrlich hält. | ||||||
33 | Einen Theil der Philologie machen die Humaniora aus, worunter | ||||||
34 | man die Kenntniß der Alten versteht, welche die Vereinigung der | ||||||
35 | Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und | ||||||
36 | die Communicabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert. | ||||||
[ Seite 044 ] [ Seite 046 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |