Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 036

     
           
 

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  01 woraus sie entspringen: so treffen wir hier auf den Unterschied      
  02 zwischen Anschauungen und Begriffen. Alle unsre Erkenntnisse nämlich      
  03 sind, in dieser Rücksicht betrachtet, entweder Anschauungen oder Begriffe.      
  04 Die erstern haben ihre Quelle in der Sinnlichkeit, dem      
  05 Vermögen der Anschauungen, die letztern im Verstande, dem Vermögen      
  06 der Begriffe. Dieses ist der logische Unterschied zwischen Verstand      
  07 und Sinnlichkeit, nach welchem diese nichts als Anschauungen, jener      
  08 hingegen nichts als Begriffe liefert. Beide Grundvermögen lassen sich      
  09 freilich auch noch von einer andern Seite betrachten und auf eine andre      
  10 Art definiren; nämlich die Sinnlichkeit als ein Vermögen der Receptivität,      
  11 der Verstand als ein Vermögen der Spontaneität. Allein diese      
  12 Erklärungsart ist nicht logisch, sondern metaphysisch. Man pflegt      
  13 die Sinnlichkeit auch das niedere, den Verstand dagegen das obere Vermögen      
  14 zu nennen, aus dem Grunde, weil die Sinnlichkeit den bloßen      
  15 Stoff zum Denken giebt, der Verstand aber über diesen Stoff disponirt      
  16 und denselben unter Regeln oder Begriffe bringt.      
           
  17 Auf den hier angegebenen Unterschied zwischen intuitiven und discursiven      
  18 Erkenntnissen, oder zwischen Anschauungen und Begriffen gründet      
  19 sich die Verschiedenheit der ästhetischen und der logischen Vollkommenheit      
  20 des Erkenntnisses.      
           
  21 Ein Erkenntniß kann vollkommen sein, entweder nach Gesetzen der      
  22 Sinnlichkeit, oder nach Gesetzen des Verstandes; im erstern Falle ist es      
  23 ästhetisch, im andern logisch vollkommen. Beide, die ästhetische und      
  24 die logische Vollkommenheit, sind also von verschiedener Art, die erstere      
  25 bezieht sich auf die Sinnlichkeit, die letztere auf den Verstand. Die logische      
  26 Vollkommenheit des Erkenntnisses beruht auf seiner Übereinstimmung      
  27 mit dem Objecte; also auf allgemeingültigen Gesetzen, und läßt sich      
  28 mithin auch nach Normen a priori beurtheilen. Die ästhetische Vollkommenheit      
  29 besteht in der Übereinstimmung des Erkenntnisses mit dem      
  30 Subjecte und gründet sich auf die besondere Sinnlichkeit des Menschen.      
  31 Es finden daher bei der ästhetischen Vollkommenheit keine objectiv= und      
  32 allgemeingültigen Gesetze statt, in Beziehung auf welche sie sich a priori      
  33 auf eine für alle denkenden Wesen überhaupt allgemeingeltende Weise beurtheilen      
  34 ließe. Sofern es indessen auch allgemeine Gesetze der Sinnlichkeit      
  35 giebt, die, obgleich nicht objectiv und für alle denkenden Wesen      
  36 überhaupt, doch subjectiv für die gesammte Menschheit Gültigkeit haben:      
  37 läßt sich auch eine ästhetische Vollkommenheit denken, die den Grund eines      
           
     

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