Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 035 |
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01 | Diese Bewandtniß hat es mit allen einfachen Vorstellungen, die | ||||||
02 | nie deutlich werden; nicht, weil in ihnen Verwirrung, sondern weil in | ||||||
03 | ihnen kein Mannigfaltiges anzutreffen ist. Man muß sie daher undeutlich, | ||||||
04 | aber nicht verworren nennen. | ||||||
05 | Und auch selbst bei den zusammengesetzten Vorstellungen, in denen | ||||||
06 | sich ein Mannigfaltiges von Merkmalen unterscheiden läßt, rührt die | ||||||
07 | Undeutlichkeit oft nicht her von Verwirrung, sondern von Schwäche des | ||||||
08 | Bewußtseins. Es kann nämlich etwas deutlich sein der Form nach, | ||||||
09 | d. h. ich kann mir des Mannigfaltigen in der Vorstellung bewußt sein; | ||||||
10 | aber der Materie nach kann die Deutlichkeit abnehmen, wenn der Grad | ||||||
11 | des Bewußtseins kleiner wird, obgleich alle Ordnung da ist. Dieses ist | ||||||
12 | der Fall mit abstracten Vorstellungen. | ||||||
13 | Die Deutlichkeit selbst kann eine zwiefache sein: | ||||||
14 | Erstlich, eine sinnliche. Diese besteht in dem Bewußtsein des | ||||||
15 | Mannigfaltigen in der Anschauung. Ich sehe z. B. die Milchstraße als | ||||||
16 | einen weißlichten Streifen; die Lichtstrahlen von den einzelnen in demselben | ||||||
17 | befindlichen Sternen müssen nothwendig in mein Auge gekommen | ||||||
18 | sein. Aber die Vorstellung davon war nur klar und wird durch das | ||||||
19 | Teleskop erst deutlich, weil ich jetzt die einzelnen in jenem Milchstreifen | ||||||
20 | enthaltenen Sterne erblicke. | ||||||
21 | Zweitens, eine intellectuelle; Deutlichkeit in Begriffen | ||||||
22 | oder Verstandesdeutlichkeit. Diese beruht auf der Zergliederung des | ||||||
23 | Begriffs in Ansehung des Mannigfaltigen, das in ihm enthalten liegt. | ||||||
24 | So sind z. B. in dem Begriffe der Tugend als Merkmale enthalten | ||||||
25 | 1) der Begriff der Freiheit, 2) der Begriff der Anhänglichkeit an Regeln | ||||||
26 | (der Pflicht), 3) der Begriff von Überwältigung der Macht der Neigungen, | ||||||
27 | wofern sie jenen Regeln widerstreiten. Lösen wir nun so den Begriff der | ||||||
28 | Tugend in seine einzelnen Bestandtheile auf, so machen wir ihn eben | ||||||
29 | durch diese Analyse uns deutlich. Durch diese Deutlichmachung selbst | ||||||
30 | aber setzen wir zu einem Begriffe nichts hinzu; wir erklären ihn nur. Es | ||||||
31 | werden daher bei der Deutlichkeit die Begriffe nicht der Materie, sondern | ||||||
32 | nur der Form nach verbessert. | ||||||
33 | Reflectiren wir auf unsre Erkenntnisse in Ansehung der beiden | ||||||
34 | wesentlich verschiedenen Grundvermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes, | ||||||
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