Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 017 |
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01 | das Volk leiten konnten, wohin sie wollten, weil sich das Volk durch den | ||||||
02 | Schein hintergehen läßt. Dialektik war also damals die Kunst des | ||||||
03 | Scheins. In der Logik wurde sie auch eine Zeitlang unter dem Namen | ||||||
04 | der Disputirkunst vorgetragen, und so lange war alle Logik und Philosophie | ||||||
05 | die Cultur gewisser geschwätziger Köpfe, jeden Schein zu erkünsteln. | ||||||
06 | Nichts aber kann eines Philosophen unwürdiger sein als die Cultur einer | ||||||
07 | solchen Kunst. Sie muß daher in dieser Bedeutung gänzlich wegfallen | ||||||
08 | und statt derselben vielmehr eine Kritik dieses Scheines in die Logik eingeführt | ||||||
09 | werden. | ||||||
10 | Wir würden demnach zwei Theile der Logik haben: die Analytik, | ||||||
11 | welche die formalen Kriterien der Wahrheit vortrüge und die Dialektik, | ||||||
12 | welche die Merkmale und Regeln enthielte, wonach wir erkennen könnten, | ||||||
13 | daß etwas mit den formalen Kriterien der Wahrheit nicht übereinstimmt, | ||||||
14 | ob es gleich mit denselben übereinzustimmen scheint. Die Dialektik in | ||||||
15 | dieser Bedeutung würde also ihren guten Nutzen haben als Katharktikon | ||||||
16 | des Verstandes. | ||||||
17 | Man pflegt die Logik ferner einzutheilen | ||||||
18 | 2) in die natürliche oder populare und in die künstliche oder wissenschaftliche | ||||||
19 | Logik ( logica naturalis, log. scholastica s. artificialis ). | ||||||
21 | Aber diese Eintheilung ist unstatthaft. Denn die natürliche Logik | ||||||
22 | oder die Logik der gemeinen Vernunft ( sensus communis ) ist eigentlich | ||||||
23 | keine Logik, sondern eine anthropologische Wissenschaft, die nur empirische | ||||||
24 | Principien hat, indem sie von den Regeln des natürlichen Verstandes | ||||||
25 | und Vernunftgebrauchs handelt, die nur in concreto , also ohne Bewußtsein | ||||||
26 | derselben in abstracto , erkannt werden. - die künstliche oder wissenschaftliche | ||||||
27 | Logik verdient daher allein diesen Namen, als eine Wissenschaft | ||||||
28 | der nothwendigen und allgemeinen Regeln des Denkens, die unabhängig | ||||||
29 | von dem natürlichen Verstandes= und Vernunftgebrauche in concreto a | ||||||
30 | priori erkannt werden können und müssen, ob sie gleich zuerst nur durch | ||||||
31 | Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden können. | ||||||
32 | 3) Noch eine andre Eintheilung der Logik ist die in theoretische und | ||||||
33 | praktische Logik. Allein auch diese Eintheilung ist unrichtig. | ||||||
34 | Die allgemeine Logik, die, als ein bloßer Kanon, von allen Objecten | ||||||
35 | abstrahirt, kann keinen praktischen Theil haben. Dieses wäre eine contradictio | ||||||
36 | in adjecto , weil eine praktische Logik die Kenntniß einer gewissen | ||||||
37 | Art von Gegenständen, worauf sie angewandt wird, voraussetzt. Wir | ||||||
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