Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 404 |
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01 | um sich versammeln könnte (wie denn Kühnheit ansteckend ist): welches | ||||||
02 | die Polizei im Reiche der Wissenschaften nicht dulden kann. | ||||||
03 | Die wegwerfende Art über das Formale in unserer Erkenntniß | ||||||
04 | (welches doch das hauptsächlichste Geschäft der Philosophie ist) als eine | ||||||
05 | Pedanterei unter dem Namen "einer Formgebungsmanufactur" | ||||||
06 | abzusprechen bestätigt diesen Verdacht, nämlich einer geheimen Absicht: | ||||||
07 | unter dem Aushängeschilde der Philosophie in der That alle Philosophie | ||||||
08 | zu verbannen und als Sieger über sie vornehm zu thun ( pedibus subiecta | ||||||
09 | vicissim Obteritur, nos exaequat victoria coelo. Lucret. ). - Wie wenig | ||||||
10 | aber dieser Versuch unter Beleuchtung einer immer wachsamen Kritik gelingen | ||||||
11 | könne, ist aus folgendem Beispiel zu ersehen. | ||||||
12 | In der Form besteht das Wesen der Sache ( forma dat esse rei , hie | ||||||
13 | es bei den Scholastikern), sofern dieses durch Vernunft erkannt werden | ||||||
14 | soll. Ist diese Sache ein Gegenstand der Sinne, so ist es die Form der | ||||||
15 | Dinge in der Anschauung (als Erscheinungen), und selbst die reine Mathematik | ||||||
16 | ist nichts anders als eine Formenlehre der reinen Anschauung; | ||||||
17 | Sowie die Metaphysik als reine Philosophie ihr Erkenntniß zuoberst auf | ||||||
18 | Denkformen gründet, unter welche nachher jedes Object (Materie der | ||||||
19 | Erkenntniß) subsumirt werden mag. Auf diesen Formen beruht die Möglichkeit | ||||||
20 | alles synthetischen Erkenntnisses a priori, welches wir zu haben doch | ||||||
21 | nicht in Abrede ziehen können. - Den Übergang aber zum Übersinnlichen, | ||||||
22 | wozu uns die Vernunft unwiderstehlich treibt, und den sie nur in moralisch | ||||||
23 | praktischer Rücksicht thun kann, bewirkt sie auch allein durch solche | ||||||
24 | (praktische) Gesetze, welche nicht die Materie der freien Handlungen (ihren | ||||||
25 | Zweck), sondern nur ihre Form, die Tauglichkeit ihrer Maximen zur Allgemeinheit | ||||||
26 | einer Gesetzgebung überhaupt, zum Princip machen. In beiden | ||||||
27 | Feldern (des theoretischen und praktischen) ist es nicht eine plan=oder | ||||||
28 | gar fabrikenmäßig (zum Behuf des Staats) eingerichtete willkürliche | ||||||
29 | Formgebung, sondern eine vor aller das gegebene Object handhabenden | ||||||
30 | Manufactur, ja ohne einen Gedanken daran vorhergehende fleißige und | ||||||
31 | sorgsame Arbeit des Subjects, sein eigenes (der Vernunft) Vermögen aufzunehmen | ||||||
32 | und zu würdigen; hingegen wird der Ehrenmann, der für die | ||||||
33 | Vision des Übersinnlichen ein Orakel eröffnet, nicht von sich ablehnen | ||||||
34 | können es auf eine mechanische Behandlung der Köpfe angelegt und ihr | ||||||
35 | den Namen der Philosophie nur ehrenhalber beigegeben zu haben. | ||||||
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