Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 405 |
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01 | Aber wozu nun aller dieser Streit zwischen zwei Parteien, die im | ||||||
02 | Grunde eine und dieselbe gute Absicht haben, nämlich die Menschen weise | ||||||
03 | und rechtschaffen zu machen? Es ist ein Lärm um nichts, Veruneinigung | ||||||
04 | aus Mißverstande, bei der es keiner Aussöhnung, sondern nur einer | ||||||
05 | wechselseitigen Erklärung bedarf, um einen Vertrag, der die Eintracht | ||||||
06 | fürs künftige noch inniglicher macht, zu schließen. | ||||||
07 | Die verschleierte Göttin, vor der wir beiderseits unsere Kniee beugen, | ||||||
08 | ist das moralische Gesetz in uns in seiner unverletzlichen Majestät. Wir | ||||||
09 | vernehmen zwar ihre Stimme und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; | ||||||
10 | sind aber beim Anhören im Zweifel, ob sie von dem Menschen aus der | ||||||
11 | Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem | ||||||
12 | anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch | ||||||
13 | diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme. Im Grunde thäten wir | ||||||
14 | vielleicht besser uns dieser Nachforschung gar zu überheben, da sie bloß | ||||||
15 | speculativ ist, und, was uns zu thun obliegt (objectiv), immer dasselbe | ||||||
16 | bleibt, man mag eines oder das andere Princip zum Grunde legen: nur | ||||||
17 | daß das didaktische Verfahren, das moralische Gesetz in uns auf deutliche | ||||||
18 | Begriffe nach logischer Lehrart zu bringen, eigentlich allein philosophisch, | ||||||
19 | dasjenige aber, jenes Gesetz zu personificiren und aus der moralisch | ||||||
20 | gebietenden Vernunft eine verschleierte Isis zu machen (ob wir dieser | ||||||
21 | gleich keine andere Eigenschaften beilegen, als die nach jener Methode gefunden | ||||||
22 | werden), eine ästhetische Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes | ||||||
23 | ist; deren man sich wohl hinten nach, wenn durch erstere die Principien | ||||||
24 | schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch sinnliche, | ||||||
25 | obzwar nur analogische, Darstellung jene Ideen zu beleben, doch immer | ||||||
26 | mit einiger Gefahr in schwärmerische Vision zu gerathen, die der Tod | ||||||
27 | aller Philosophie ist. | ||||||
28 | Jene Göttin also ahnen zu können, würde ein Ausdruck sein, der | ||||||
29 | nichts mehr bedeutete als: durch sein moralisches Gefühl zu Pflichtbegriffen | ||||||
30 | geleitet zu werden, ehe man noch die Principien, wovon jenes abhängt, | ||||||
31 | sich hat deutlich machen können; welche Ahnung eines Gesetzes, | ||||||
32 | sobald es durch schulgerechte Behandlung in klare Einsicht übergeht, das | ||||||
33 | eigentliche Geschäft der Philosophie ist, ohne welche jener Ausspruch der | ||||||
34 | Vernunft die Stimme eines Orakels*), welches allerlei Auslegungen | ||||||
35 | ausgesetzt ist, sein würde. | ||||||
*) Diese Geheimnißkrämerei ist von ganz eigener Art. Die Adepten derselben haben dessen kein Hehl, daß sie ihr Licht beim Plato angezündet haben; [Seitenumbruch] und dieser vorgebliche Plato gesteht frei: daß, wenn man ihn fragt, worin es denn bestehe (was dadurch aufgeklärt werde), er es nicht zu sagen wisse. Aber desto besser! Denn da versteht es sich von selbst, daß er, ein anderer Prometheus, den Funken dazu unmittelbar dem Himmel entwandt habe. So hat man gut im vornehmen Ton reden, wenn man von altem erblichen Adel ist und sagen kann: "In unsern altklugen Zeiten pflegt bald Alles, was aus Gefühl gesagt oder gethan wird, für Schwärmerei gehalten zu werden. Armer Plato, wenn du nicht das Siegel des Alterthums auf dir hättest, und wenn man, ohne dich gelesen zu haben, einen Anspruch auf Gelehrsamkeit machen könnte, wer würde dich in dem prosaischen Zeitalter, in welchem das die höchste Weisheit ist, nichts zu sehen, als was vor den Füßen liegt, und nichts anzunehmen, als was man mit Händen greifen kann, noch lesen wollen?" - Aber dieser Schluß ist zum Unglück nicht folgerecht; er beweist zu viel. Denn Aristoteles, ein äußerst prosaischer Philosoph, hat doch gewiß auch das Siegel des Alterthums auf sich und nach jenem Grundsatze den Anspruch darauf gelesen zu werden! - Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag jetzt wiederum poetisch zu philosophiren möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prose, sondern in Versen zu schreiben. | |||||||
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