Kant: AA VIII, Das Ende aller ... , Seite 328 |
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01 | Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag mit | ||||||
02 | dem, was er enthält, das Erzeugniß des vorigen ist. Wie nun das letzte | ||||||
03 | Kind seiner Eltern jüngstes Kind genannt wird: so hat unsre Sprache | ||||||
04 | beliebt, den letzten Tag (den Zeitpunkt, der alle Zeit beschließt) den jüngsten | ||||||
05 | Tag zu nennen. Der jüngste Tag gehört also annoch zur Zeit; denn | ||||||
06 | es geschieht an ihm noch irgend Etwas (nicht zur Ewigkeit, wo nichts | ||||||
07 | mehr geschieht, weil das Zeitfortsetzung sein würde, Gehöriges): nämlich Ablegung | ||||||
08 | der Rechnung der Menschen von ihrem Verhalten in ihrer ganzen | ||||||
09 | Lebenszeit. Er ist ein Gerichtstag; das Begnadigungs= oder Verdammungs | ||||||
10 | Urtheil des Weltrichters ist also das eigentliche Ende aller Dinge | ||||||
11 | in der Zeit und zugleich der Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit, | ||||||
12 | in welcher das Jedem zugefallne Loos so bleibt, wie es in dem Augenblick | ||||||
13 | des Ausspruchs (der Sentenz) ihm zu Theil ward. Also enthält der | ||||||
14 | jüngste Tag auch das jüngste Gericht zugleich in sich. - Wenn nun | ||||||
15 | zu den letzten Dingen noch das Ende der Welt, so wie sie in ihrer jetzigen | ||||||
16 | Gestalt erscheint, nämlich das Abfallen der Sterne vom Himmel als einem | ||||||
17 | Gewölbe, der Einsturz dieses Himmels selbst (oder das Entweichen desselben | ||||||
18 | als eines eingewickelten Buchs), das Verbrennen beider, die | ||||||
19 | Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde zum Sitz der | ||||||
20 | Seligen und der Hölle zu dem der Verdammten, gezählt werden sollten: | ||||||
21 | so würde jener Gerichtstag freilich nicht der jüngste Tag sein; sondern es | ||||||
22 | würden noch verschiedne andre auf ihn folgen. Allein da die Idee eines | ||||||
23 | Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den | ||||||
24 | physischen, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt | ||||||
25 | hernimmt und dadurch allein veranlaßt wird; der letztere auch allein auf | ||||||
26 | das Übersinnliche (welches nur am Moralischen verständlich ist), dergleichen | ||||||
27 | die Idee der Ewigkeit ist, bezogen werden kann: so muß die Vorstellung | ||||||
28 | jener letzten Dinge, die nach dem jüngsten Tage kommen sollen, nur als | ||||||
29 | eine Versinnlichung des letztern sammt seinen moralischen, uns übrigens | ||||||
30 | nicht theoretisch begreiflichen Folgen angesehen werden. | ||||||
31 | Es ist aber anzumerken, daß es von den ältesten Zeiten her zwei die | ||||||
32 | künftige Ewigkeit betreffende Systeme gegeben hat: eines das der Unitarier | ||||||
33 | derselben, welche allen Menschen (durch mehr oder weniger lange | ||||||
34 | Büßungen gereinigt) die ewige Seligkeit, das andre das der Dualisten*), | ||||||
*) Ein solches System war in der altpersischen Religion (des Zoroaster) auf der Voraussetzung zweier im ewigen Kampf mit einander begriffenen Urwesen, | |||||||
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