Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 300

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Verfassung das Volk kein zu Recht beständiges Urtheil mehr hat,      
  02 zu bestimmen: wie jene solle verwaltet werden. Denn man setze: es habe      
  03 ein solches und zwar dem Urtheile des wirklichen Staatsoberhaupts zuwider;      
  04 wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von      
  05 beiden kann es als Richter in seiner eigenen Sache thun. Also müßte es      
  06 noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem      
  07 und dem Volk entschiede: welches sich widerspricht. - Auch kann nicht      
  08 etwa ein Nothrecht ( ius in casu necessitatis ), welches ohnehin als ein vermeintes      
  09 Recht, in der höchsten (physischen) Noth unrecht zu thun, ein      
  10 Unding ist*). hier eintreten und zur Hebung des die Eigenmacht des Volks      
  11 einschränkenden Schlagbaums den Schlüssel hergeben. Denn das Oberhaupt      
  12 des Staats kann eben so wohl sein hartes Verfahren gegen die      
  13 Unterthanen durch ihre Widerspenstigkeit, als diese ihren Aufruhr durch      
  14 Klage über ihr ungebührliches Leiden gegen ihn zu rechtfertigen meinen;      
  15 und wer soll hier nun entscheiden? Wer sich im Besitz der obersten öffentlichen      
  16 Rechtspflege befindet, und das ist gerade das Staatsoberhaupt, dieses      
  17 kann es allein thun; und niemand im gemeinen Wesen kann also ein      
  18 Recht haben, ihm diesen Besitz streitig zu machen.      
           
           
    *) Es giebt keinen casus necessitatis , als in dem Fall, wo Pflichten, nämlich unbedingte und (zwar vielleicht große, aber doch) bedingte Pflicht, gegen einander streiten; z. B. wenn es auf Abwendung eines Unglücks vom Staat durch den Verrath eines Menschen ankommt, der gegen einen Andern in einem Verhältniß etwa wie Vater und Sohn stände. Diese Abwendung des Übels des Ersteren ist unbedingte, die des Unglücks des letzteren aber nur bedingte Pflicht (nämlich so fern er sich nicht eines Verbrechens wider den Staat schuldig gemacht hat). Die Anzeige, die der letztere von der Unternehmung des ersteren der Obrigkeit machen würde, thut er vielleicht mit dem größten Widerwillen, aber durch Noth (nämlich die moralische) gedrungen. - Wenn aber von einem, welcher einen andern Schiffbrüchigen von seinem Brett stößt, um sein eigenes Leben zu erhalten, gesagt wird, er habe durch seine Noth (die physische) ein Recht dazu bekommen: so ist das ganz falsch. Denn mein Leben zu erhalten, ist nur bedingte Pflicht (wenn es ohne Verbrechen geschehen kann); einem Andern aber, der mich nicht beleidigt, ja gar nicht einmal in Gefahr das meinige zu verlieren bringt, es nicht zu nehmen, ist unbedingte Pflicht. Die Lehrer des allgemeinen bürgerlichen Rechts verfahren gleichwohl mit der rechtlichen Befugniß, die sie dieser Nothhülfe zugestehen, ganz consequent. Denn die Obrigkeit kann keine Strafe mit dem Verbot verbinden, weil diese Strafe der Tod sein müßte. Es wäre aber ein ungereimtes Gesetz, jemanden den Tod androhen, wenn er sich in gefährlichen Umständen dem Tode nicht freiwillig überlieferte.      
           
     

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