Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 296 |
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01 | nämlich jeder nur zu einer Stimme berechtigt. Denn was die letztern | ||||||
02 | betrifft, ohne einmal die Frage in Anschlag zu bringen: wie es doch mit | ||||||
03 | Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen | ||||||
04 | hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte (denn die Erwerbung | ||||||
05 | durch Kriegsbemächtigung ist keine erste Erwerbung); und wie es zuging, | ||||||
06 | daß viele Menschen, die sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand | ||||||
07 | hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, | ||||||
08 | um leben zu können? So würde es schon wider den vorigen Grundsatz der | ||||||
09 | Gleichheit streiten, wenn ein Gesetz sie mit dem Vorrecht des Standes | ||||||
10 | privilegirte, daß ihre Nachkommen entweder immer große Gutseigenthümer | ||||||
11 | (der Lehne) bleiben sollten, ohne daß sie verkauft oder durch Vererbung | ||||||
12 | getheilt und also mehreren im Volk zu Nutze kommen dürften, | ||||||
13 | oder auch selbst bei diesen Theilungen niemand als der zu einer gewissen | ||||||
14 | willkürlich dazu angeordneten Menschenklasse Gehörige davon etwas erwerben | ||||||
15 | könnte. Der große Gutsbesitzer vernichtigt nämlich so viel kleinere | ||||||
16 | Eigenthümer mit ihren Stimmen, als seinen Platz einnehmen könnten; | ||||||
17 | stimmt also nicht in ihrem Namen und hat mithin nur eine Stimme. | ||||||
18 | Da es also bloß von dem Vermögen, dem Fleiß und dem Glück jedes | ||||||
19 | Gliedes des gemeinen Wesens abhängend gelassen werden muß, daß jeder | ||||||
20 | einmal einen Theil davon und alle das Ganze erwerben, dieser Unterschied | ||||||
21 | aber bei der allgemeinen Gesetzgebung nicht in Anschlag gebracht werden | ||||||
22 | kann: so muß nach den Köpfen derer, die im Besitzstande sind, nicht nach | ||||||
23 | der Größe der Besitzungen die Zahl der Stimmfähigen zur Gesetzgebung | ||||||
24 | beurtheilt werden. | ||||||
25 | Es müssen aber auch alle, die dieses Stimmrecht haben, zu diesem | ||||||
26 | Gesetz der öffentlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen; denn sonst würde | ||||||
27 | zwischen denen, die dazu nicht übereinstimmen, und den ersteren ein Rechtstreit | ||||||
28 | sein, der selbst noch eines höheren Rechtsprincips bedürfte, um entschieden | ||||||
29 | zu werden. Wenn also das Erstere von einem ganzen Volk nicht erwartet | ||||||
30 | werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen und zwar nicht | ||||||
31 | der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der | ||||||
32 | dazu Delegirten als Repräsentanten des Volks dasjenige ist, was allein | ||||||
33 | man als erreichbar voraussehen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, | ||||||
34 | sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, | ||||||
35 | also durch einen Contract, angenommen, der oberste Grund | ||||||
36 | der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen. | ||||||
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