Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 297 |
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01 | Folgerung. |
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02 | Hier ist nun ein ursprünglicher Contract, auf den allein eine | ||||||
03 | bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet | ||||||
04 | und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. - Allein dieser | ||||||
05 | Vertrag ( contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Coalition | ||||||
06 | jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen | ||||||
07 | und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), | ||||||
08 | ist keinesweges als ein Factum vorauszusetzen nöthig (ja | ||||||
09 | als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte | ||||||
10 | vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und | ||||||
11 | Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich | ||||||
12 | einen solchen Actus verrichtet und eine sichere Nachricht oder ein Instrument | ||||||
13 | davon uns mündlich oder schriftlich hinterlassen haben müsse, um | ||||||
14 | sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. | ||||||
15 | Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte | ||||||
16 | (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er | ||||||
17 | seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen | ||||||
18 | Volks haben entspringen können, und jeden Unterthan, so fern er Bürger | ||||||
19 | sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen | ||||||
20 | gestimmt habe. Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines | ||||||
21 | jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes | ||||||
22 | Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. da | ||||||
23 | eine gewisse Klasse von Unterthanen erblich den Vorzug des Herrenstandes | ||||||
24 | haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, | ||||||
25 | daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht | ||||||
26 | zu halten: gesetzt auch, daß das Volk jetzt in einer solchen Lage, oder | ||||||
27 | Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt | ||||||
28 | würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde*). | ||||||
29 | Aber diese Einschränkung gilt offenbar nur für das Urtheil des Gesetzgebers, | ||||||
30 | nicht des Unterthans. Wenn also ein Volk unter einer gewissen | ||||||
31 | jetzt wirklichen Gesetzgebung seine Glückseligkeit einzubüßen mit | ||||||
32 | größter Wahrscheinlichkeit urtheilen sollte: was ist für dasselbe zu thun? Soll | ||||||
*) Wenn z. B. eine für alle Unterthanen proportionirte Kriegssteuer ausgeschrieben würde, so können diese darum, weil sie drückend ist, nicht sagen, da sie ungerecht sei, weil etwa der Krieg ihrer Meinung nach unnöthig wäre: denn das sind sie nicht berechtigt zu beurtheilen; sondern weil es doch immer möglich [Seitenumbruch] bleibt, daß er unvermeidlich und die Steuer unentbehrlich sei, so muß sie in dem Urtheile des Unterthans für rechtmäßig gelten. Wenn aber gewisse Gutseigenthümer in einem solchen Kriege mit Lieferungen belästigt, andere aber desselben Standes damit verschont würden: so sieht man leicht, ein ganzes Volk könne zu einem solchen Gesetz nicht zusammenstimmen, und es ist befugt, wider dasselbe wenigstens Vorstellungen zu thun, weil es diese ungleiche Austheilung der Lasten nicht für gerecht halten kann. | |||||||
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