Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 263

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie      
  02 ist nun: daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht,      
  03 nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die      
  04 Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen      
  05 giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen: obgleich freilich diese      
  06 Zweifel als Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer      
  07 Vernunft in Ansehung der letztern reicht, auch das Gegentheil nicht beweisen      
  08 können. Ob aber nicht noch etwa mit der Zeit tüchtigere Gründe      
  09 der Rechtfertigung derselben erfunden werden könnten, die angeklagte      
  10 Weisheit nicht (wie bisher) bloß ab instantia zu absolviren: das bleibt      
  11 dabei doch noch immer unentschieden, wenn wir es nicht dahin bringen,      
  12 mit Gewißheit darzuthun: daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses,      
  13 in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung      
  14 immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe,      
  15 schlechterdings unvermögend sei; denn alsdann sind alle fernere Versuche      
  16 vermeintlicher menschlicher Weisheit, die Wege der göttlichen einzusehen,      
  17 völlig abgewiesen. Daß also wenigstens eine negative Weisheit, nämlich      
  18 die Einsicht der nothwendigen Beschränkung unsrer Anmaßungen in Ansehung      
  19 dessen, was uns zu hoch ist, für uns erreichbar sei: das muß noch      
  20 bewiesen werden, um diesen Proceß für immer zu endigen; und dieses      
  21 läßt sich gar wohl thun.      
           
  22 Wir haben nämlich von einer Kunstweisheit in der Einrichtung      
  23 dieser Welt einen Begriff, dem es für unser speculatives Vernunftvermögen      
  24 nicht an objectiver Realität mangelt, um zu einer Physikotheologie      
  25 zu gelangen. Eben so haben wir auch einen Begriff von einer moralischen      
  26 Weisheit, die in eine Welt überhaupt durch einen vollkommensten      
  27 Urheber gelegt werden könnte, an der sittlichen Idee unserer      
  28 eigenen praktischen Vernunft. - Aber von der Einheit in der Zusammenstimmung      
  29 jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit      
  30 in einer Sinnenwelt haben wir keinen Begriff und können auch zu demselben      
  31 nie zu gelangen hoffen. Denn ein Geschöpf zu sein und als Naturwesen      
  32 bloß dem Willen seines Urhebers zu folgen; dennoch aber als freihandelndes      
  33 Wesen (welches seinen vom äußern Einfluß unabhängigen      
  34 Willen hat, der dem erstern vielfältig zuwider sein kann) der Zurechnung      
  35 fähig zu sein und seine eigne That doch auch zugleich als die Wirkung      
  36 eines höhern Wesens anzusehen: ist eine Vereinbarung von Begriffen,      
  37 die wir zwar in der Idee einer Welt, als des höchsten Guts, zusammen      
           
     

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