Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 264 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | denken müssen; die aber nur der einsehen kann, welcher bis zur Kenntniß | ||||||
02 | der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt und die Art einsieht, | ||||||
03 | wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt: auf welche Einsicht allein der | ||||||
04 | Beweis der moralischen Weisheit des Welturhebers in der letztern gegründet | ||||||
05 | werden kann, da diese doch nur die Erscheinung jener erstern | ||||||
06 | Welt darbietet, - eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann. | ||||||
07 | Alle Theodicee soll eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern | ||||||
08 | Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kund macht. Nun ist jede | ||||||
09 | Auslegung des declarirten Willens eines Gesetzgebers entweder doctrinal | ||||||
10 | oder authentisch. Die erste ist diejenige, welche jenen Willen aus | ||||||
11 | den Ausdrücken, deren sich dieser bedient hat, in Verbindung mit den sonst | ||||||
12 | bekannten Absichten des Gesetzgebers herausvernünftelt; die zweite macht | ||||||
13 | der Gesetzgeber selbst. | ||||||
14 | Die Welt, als ein Werk Gottes, kann von uns auch als eine göttliche | ||||||
15 | Bekanntmachung der Absichten seines Willens betrachtet werden. Allein | ||||||
16 | hierin ist sie für uns oft ein verschlossenes Buch; jederzeit aber ist sie | ||||||
17 | dies, wenn es darauf angesehen ist, sogar die Endabsicht Gottes (welche | ||||||
18 | jederzeit moralisch ist) aus ihr, obgleich einem Gegenstande der Erfahrung, | ||||||
19 | abzunehmen. Die philosophischen Versuche dieser Art Auslegung sind | ||||||
20 | doctrinal und machen die eigentliche Theodicee aus, die man daher die | ||||||
21 | doctrinale nennen kann. - Doch kann man auch der bloßen Abfertigung | ||||||
22 | aller Einwürfe wider die göttliche Weisheit den Namen einer Theodicee | ||||||
23 | nicht versagen, wenn sie ein göttlicher Machtspruch, oder (welches in | ||||||
24 | diesem Falle auf eins hinausläuft) wenn sie ein Ausspruch derselben | ||||||
25 | Vernunft ist, wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen | ||||||
26 | und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahrung machen. Denn | ||||||
27 | da wird Gott durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die | ||||||
28 | Schöpfung verkündigten Willens; und diese Auslegung können wir eine | ||||||
29 | authentische Theodicee nennen. Das ist aber alsdann nicht Auslegung | ||||||
30 | einer vernünftelnden (speculativen), sondern einer machthabenden | ||||||
31 | praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben | ||||||
32 | schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme | ||||||
33 | Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner | ||||||
34 | Schöpfung einen Sinn giebt. Eine solche authentische Interpretation | ||||||
35 | finde ich nun in einem alten heiligen Buche allegorisch ausgedrückt. | ||||||
[ Seite 263 ] [ Seite 265 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |