Kant: AA VIII, Idee zu einer allgemeinen ... , Seite 022 |
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01 | Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung | ||||||
02 | eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen | ||||||
03 | Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise | ||||||
04 | verderbt habe. | ||||||
05 | Fünfter Satz. |
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06 | Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen | ||||||
07 | Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein | ||||||
08 | das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da | ||||||
09 | nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin | ||||||
10 | einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste | ||||||
11 | Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie | ||||||
12 | mit der Freiheit anderer bestehen könne, - da nur in ihr die höchste Absicht | ||||||
13 | der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der | ||||||
14 | Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen so wie | ||||||
15 | alle Zwecke ihrer Bestimmung sich selbst verschaffen solle: so muß eine | ||||||
16 | Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen | ||||||
17 | Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen | ||||||
18 | wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die | ||||||
19 | höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein, weil die Natur | ||||||
20 | nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten | ||||||
21 | mit unserer Gattung erreichen kann. In diesen Zustand des Zwanges | ||||||
22 | zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen | ||||||
23 | Menschen die Noth; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche | ||||||
24 | sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, | ||||||
25 | daß sie in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können. | ||||||
26 | Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben | ||||||
27 | dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung: so wie Bäume in einem | ||||||
28 | Walde eben dadurch, daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen | ||||||
29 | sucht, einander nöthigen beides über sich zu suchen und dadurch | ||||||
30 | einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit | ||||||
31 | und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, | ||||||
32 | krüppelig, schief und krumm wachsen. Alle Cultur und Kunst, welche die | ||||||
33 | Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, | ||||||
34 | die durch sich selbst genöthigt wird sich zu discipliniren und so | ||||||
35 | durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln. | ||||||
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